Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  3 (2013), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Robert Kindler

 

Jehanne M. Gheith / Katherine R. Jolluck: Gulag Voices. Oral Histories of Soviet Incarceration and Exile. Houndmills, Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2011. XII, 256 S., 4 Ktn., 10 Abb. = Palgrave Studies in Oral History. ISBN: 978-0-230-61063-7.

Dieses Buch berührt. Hier kommen Opfer der stalinschen Repressionen und ihre Kinder in einer Weise zu Wort, wie man es so noch nicht oft gelesen hat. In Interviews und schriftlichen Selbstzeugnissen berichten meist hochbetagte Menschen von Deportation, Haft und Zwangsarbeit, davon, was es in der Sowjetunion bedeutete, mit dem Kainsmal des ehemaligen Häftlings weiterleben zu müssen, und vom schwierigen Kampf um Anerkennung und Rehabilitation. Empirisch vermittelt der Band keine grundlegend neuen Einsichten. Über die harten Lebensbedingungen der verbannten Kulaken und das brutale Haftregime in den Lagern ist bereits viel geschrieben worden. Auch die Einsicht, dass Gulag-Überlebende und ihre Angehörigen stigmatisiert waren, sich vielfach schuldig fühlten und in der sowjetischen Gesellschaft des Poststalinismus zum Schweigen verurteilt waren, wurde in den letzten Jahren mehrfach formuliert (unter anderem von Nanci Adler, Miriam Dobson und Orlando Figes). Dennoch istGulag Voicesunbedingt lesenswert, weil die Interviews einen Eindruck davon vermitteln, wie der Terror konkret erinnert wird, wie nachhaltig er Menschen verletzte und über das Ende der eigentlichen Haft- und Verbannungszeit hinaus ihre Biographien bestimmte (S. 114). Dies galt nicht zuletzt auch für das Leben vieler Kinder von Repressierten, die von frühester Jugend an lernten, ihrer Umwelt zu misstrauen (S. 143).

Die Menschen, die inGulag Voiceszu Wort kommen, stehen für ganz unterschiedliche Bevölkerungsgruppen und Repressionserfahrungen. AlsKulakenin den Ural deportierte Bauern gehören ebenso dazu, wie Angehörige der tatarischen Intelligenzija oder Polen, die nach 1939 ins Visier des NKVD gerieten. Ihre Geschichten ähneln einander in mancherlei Hinsicht; etwa wenn vom Schock der Verhaftung oder dem stets als krisenhaft empfundenen Beginn des Häftlingslebens die Rede ist. Interessanter sind indes die Punkte, an denen die Befragten für sie besonders relevante Erlebnisse thematisierten. Mitunter mag es überraschend erscheinen, was ihnen Jahrzehnte nach dem offiziellen Ende der Repressionen noch wichtig erschien und was sie anscheinend weitgehend vergessen hatten. So konnte sich etwa die 92-jährige Sira Balašina nur mit Mühe daran erinnern, dass einmaldieser Mann namens Stalinexistiert hatte (S. 28). Über die harte Arbeit im Wald, die ihr Leben geprägt hatte, gab sie hingegen detailliert Auskunft.

In einer kurzen Einleitung belassen es die Herausgeberinnen bei einigen allgemeinen Hinweisen zur Geschichte des Gulag und diskutieren vor allem die mit den Interviews verbundenen Quellenprobleme. Dabei geht es ihnen nicht darum, die unergiebige Debatte fortzuführen, ob schriftliche oder mündliche Überlieferungenverlässlichersind, sondern sie konzentrieren sich auf die Frage, ob und wie sich die Flut veröffentlichter Memoiren über den Gulag seit Mitte der 1980er-Jahre auf die Erinnerung des Einzelnen auswirkte. Zweifelsohne, so konstatieren sie, sei eine Angleichung individueller Erzählungen an einen übergreifenden Opferdiskurs zu beobachten, doch zugleich zeige die konzentrierte Beschäftigung mit einzelnen Narrativen, wie unterschiedlich Erinnerung im Detail funktioniere.

Das Ziel des Buches besteht darin, die Zeitzeugen sprechen zu lassen. Ihre Erinnerungen verleihen dem Buch seine Struktur und nicht die Interpretationen der Herausgeberinnen, deren Positionen zum Inhalt des Gesagten kaumman könnte auch sagen: fast gar nichtwahrnehmbar sind. Daher sind einige Worte zur Darstellungsweise angebracht. Wie lassen sich Interviews so präsentieren, dass nicht nur die Essenz des Gesagten transportiert wird, sondern auch narrative Strukturen erkennbar bleiben? Eine Lösung mag darin bestehen, Gespräche in ihrer Gesamtheit zu transkribieren und abzudrucken, doch durch einen solchen Text wird sich niemand freiwillig quälen wollen. Deshalb mussten relevante Passage ausgewählt und zusammengestellt werden. Dabei haben es die Herausgeberinnen in der Regel vermieden, die Gedankengänge und Assoziationen der Interviewten aufzulösen und künstlich Sinnzusammenhänge herzustellen, sondern sie kommentieren Gesprächssituationen und erklären, was sich nicht unmittelbar aus den Antworten der Befragten ergibt.

Unklar bleibt indes, weshalb neben den Interviews, die zwischen 1998 und 2006 geführt wurden, auch Memoirenfragmente und Briefe von polnischen Frauen in den Band aufgenommen wurden, die aus den 1930er und 1940er Jahren stammen. Diese Dokumente sind zweifellos erschütternd, doch bei ihrer Lektüre stellt sich der Verdacht ein, dass sie hier vor allem enthalten sind, weil sie plakativer und direkter als die mitunter etwas sperrigen Interviews auf die Abgründe des stalinschen Regimes verweisen. Fast wirkt es, als vertrauten die Herausgeberinnen ihrem eigentlichen Material nicht so recht. Ihre Erklärung, dass einige dieser Texte intime Details enthalten würden, die die Frauen eher dem Papier als fremden Interviewern anvertraut hätten, mag ja richtig sein. Doch woher wollen sie das so genau wissen, wenn keine der Frauen mehr befragt werden konnte?

Warum sollte man dennoch mehr als nur einen flüchtigen Blick in diesen schmalen Band werfen? Weil sich hier die Geschichte des Gulag in individuellen Schicksalen spiegelt und weil die Lebenswege der Zeitzeugen deutlich machen, dass das Erbe des Stalinismus auch Jahrzehnte nach dem Tod des Diktators nicht überwunden ist.

Robert Kindler, Berlin

Zitierweise: Robert Kindler über: Jehanne M. Gheith / Katherine R. Jolluck: Gulag Voices. Oral Histories of Soviet Incarceration and Exile. Houndmills, Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2011. XII, 256 S., 4 Ktn., 10 Abb. = Palgrave Studies in Oral History. ISBN: 978-0-230-61063-7, http://www.oei-dokumente.de/JGO/erev/Kindler_Gheith_Gulag_Voices.html (Datum des Seitenbesuchs)

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