Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Robert Kindler, Berlin

 

Orlando Figes: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne. Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors. Aus dem Englischen und Russischen übersetzt von Bernd Rullkötter. Berlin: Hanser, 2012. 384 S., Abb. ISBN: 978-3-446-24031-5.

Die Liebe in Zeiten des Gulag ist der Gegenstand von Orlando Figes neuestem Buch. Es erzählt die Geschichte von Lev und Svetlana Miščenko. Die beiden lernten sich in den späten dreißiger Jahren kennen und verloren einander bei Beginn des Krieges aus den Augen. Erst 1946 fanden sie wieder zueinander, als Levunterdessen nach Kriegsgefangenschaft in Deutschland wegenSpionagezu zehn Jahren Lagerhaft verurteiltaus dem Gulag an seine Jugendliebe schrieb. Svetlana hatte auf ihn gewartet und in den folgenden acht Jahren bis zu seiner Entlassung wechselten die beiden mehr als 1200 Briefe, die sämtlich erhalten geblieben sind. Im Jahr 2007 übergaben die betagten Miščenkos schließlich das gesamte Konvolut an Memorial. Nun ist die einmalige Korrespondenz der beiden zur Grundlage für ein berührendes Buch geworden. Der glänzend geschriebene Text gleicht einer klassische Liebesgeschichte voller dramatischer Höhepunkte, tragischer Wendungen und mit einem romantischen Happy End.

Orlando Figes ist von den Briefen merklich gefesselt und zitiert sie ausführlich. Er suggeriert, derin der Tat außergewöhnlicheQuellenbestand ermögliche einen weitgehend ungefilterten und besonders authentischen Zugang zur Lebenswirklichkeit der stalinschen Lager. Die meisten dieser Schreiben wurden an der Zensur vorbeigeschmuggelt, so dass sich die beiden (Brief-)Partner recht offen über Lager und Leben äußern konnten. Tatsächlich konnte man aus solch einer privaten und intimen Perspektive noch nie über den Gulag lesen. Doch die stets spürbare Sympathie, die Figes seinen Helden entgegenbringt, schlägt immer wieder in Distanzlosigkeit um. Ihre in den Briefen festgehaltenen Handlungen, Taten und Gedanken bieten ihm vielfach weniger Anlass zur kritischen Reflexion als vielmehr zur Affirmation. Es ist dabei symptomatisch, dass Figes die Sprache der beiden teilweise übernimmt und etwa Svetlana konsequent zurSvetamacht.

Zwei eng miteinander verbundene Aspekte durchziehen das Buch: die erstaunliche Durchlässigkeit der Lagermauern sowie die systemimmanente Möglichkeit, scheinbar festgefügte Regeln und Verbote zu unterlaufen. Das Lager, in dem Lev einsaß, befand sich im Ort Pečora und stand mit diesem in gleichsam symbiotischer Beziehung. Die Grenzen zwischen innen und außen waren hier nur scheinbar unüberwindlich und eindeutig. Gulag-Insassen undFreie‘ waren durch Mauern und Zäune hindurch in vielfältiger Art und Weise miteinander verbunden. Briefe und Päckchen ließen sich offenkundig ohne größere Probleme durch alle Umgrenzungen schmuggeln, und selbst Menschen vermochten sie unerkannt zu überwinden. Es sind die spannendsten und fesselndsten Passagen des Buches, in denen Figes schildert, wie Svetlana sich 1947 ohne jede offizielle Erlaubnis und unter äußerst riskanten Bedingungen auf den Weg machte, um Lev zu sehen. Tatsächlich gelang es ihr mit Hilfe von Freunden, nicht nur ins Lager zu gelangen, sondern dort auch noch zwei Tage mit Lev zu verbringen.

Möglich waren solche extremen Ausnahmen auch deshalb, weil Lev eine privilegierte Stellung in der Lagergesellschaft einnahm. Er arbeitete als Techniker in einem Kraftwerk und musste keine körperlich auszehrenden Arbeiten verrichten. Dieser herausgehobenen Position war es zu verdanken, dass er Kontakte zu all den freien und halbfreien Arbeitern herstellen konnte, die für ihn Botengänge erledigten. Deshalb ergaben sich für ihn zahlreiche Möglichkeiten, die überall dort undenkbar waren, wo sich Lagerzonen weitab jeder Zivilisation befanden oder Häftlinge endlose harte Arbeit leisten mussten. Dieser Umstand war ihm nur zu gut bewusst. Deshalb schreckte ihn nichts mehr als der Gedanke, als einfacher Gefangener in eines der entfernten Lager verschickt zu werden.

Es bedurfte zahlreicher Menschen, die Mut bewiesen und allen Risiken zum Trotz Botendienste übernahmen. Figes widmet sich ausführlich den Freunden, Verwandten und Kollegen in Pečora und Moskau, die von der Beziehung wussten und vielfach taten, was in ihrer Macht stand, um die beiden Liebenden zu unterstützen. Auch Lev und Svetlana sorgten sich offenbar unentwegt um das Schicksal seiner Kameraden, die mit Medikamenten, Kleidung und aufmunternden Briefen versorgt werden mussten.

Anders als in vielen anderen Lagererinnerungen sind Themen wie Missgunst, Neid,  persönliche Vorteilsnahme und Gewalt als Alltagserfahrungen kaum präsent. Lev thematisierte solche Probleme in eher theoretischen Überlegungen zur Natur des Lagerlebens, das sozialen Zusammenhalt systematisch zerstöre und die üblichen Regeln menschlichen Anstands entwerte. Und sie kamen in seiner Überzeugung zum Ausdruck, dass die Erziehung von Kindern stets eine Erziehung zu körperlicher Kraft und Härte sein müsse, weil nur der Starke in einer Welt gnadenloser Konkurrenz bestehen könne. Wie aber verhielten sich solche, aus langjähriger Lagererfahrung gewonnenen, grundsätzlichen Einsichten zur Geschichte einer sowjetischen Gesellschaft des Zusammenhalts und der Solidarität inner- und außerhalb der Lagermauern, wie sie hier präsentiert wird? Darauf gibt das Buch keine Antwort, denn Figes interessiert sich in erster Linie für die Innenperspektive von Svetlana und Lev und ihr Verhältnis zueinander. Das ist völlig legitim, aber es wäre erhellend gewesen, diese Menschen, über deren Empfindungen und Gedanken wir so unvergleichlich gut informiert sind, stärker in der stalinistischen Diktatur zu situieren. Doch die sowjetische Gesellschaft mit ihren eigentümlichen Normen und Zwängen bleibt über weite Strecken abstrakt und unbestimmt. Sie ist Zumutung und Bedrohung, aber zugleich auch Faszinosum und Ermöglichungsraum. In welchem Verhältnis diese scheinbar widersprüchlichen Ebenen zueinander stehen, problematisiert Figes eher am Rande. Dabei läge genau hier noch viel Potenzial: Man hätte am Beispiel dieser beiden Menschen die Komplexitäten und Ambivalenzen stalinistischer Lebenswirklichkeiten diskutieren können.

Robert Kindler, Berlin

Zitierweise: Robert Kindler, Berlin über: Orlando Figes: Schick einen Gruß, zuweilen durch die Sterne. Eine Geschichte von Liebe und Überleben in Zeiten des Terrors. Aus dem Englischen und Russischen übersetzt von Bernd Rullkötter. Berlin: Hanser, 2012. 384 S., Abb. ISBN: 978-3-446-24031-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Kindler_Figes_Schick_einen_Gruss.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2014 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Robert Kindler, Berlin. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.