Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Agilolf Keßelring

 

Zwischen den Blöcken. NATO, Warschauer Pakt und Österreich. Hrsg. von Manfried Rauchensteiner. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2010. 817 S., Abb., Ktn., Tab., Graph. = Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, 36. ISBN: 978-3-205-78469-2.

Inhaltsverzeichnis:

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Manfried Rauchensteiner, der Doyen der österreichischen Militärgeschichte, hat in seiner Herausgeberschrift „Zwischen den Blöcken. NATO, Warschauer Pakt und Österreich“ zwölf Kenner Österreichs im Kalten Krieg versammelt. Das entstandene Werk – das sei bereits zum Eingang bemerkt – wird allen Erwartungen gerecht. Es stellt alles andere als einen zufälligen Konferenzband mit „Buchbindersynthese“ dar, sondern ist als Abschlussband eines Forschungsprojektes zur Verortung Österreichs im Kalten Krieg zu verstehen. Mitgewirkt haben Bruno Thoß (Österreich in der Konsolidierungsphase des westlichen Bündnissystems 1947–1967), Michael Gehler (Die Westmächte und Österreichs territoriale Integrität 1955–1957), Wolfgang Müller (Der Warschauer Pakt und Österreich 1955–1991), Hans Rudolf Fuhrer (Neutral zwischen der Blöcken: Österreich und  die Schweiz), Manfried Rauchensteiner (Operative Annahmen und Manöver des Bundesheeres 1955–1979), Hannes Philipp (Der Operationsfall „A“. Gesamtbedrohung im Zeichen der Raumverteidigung 1973–1991), Friedrich Korkisch (Die atomare Komponente. Überlegungen für einen Atomwaffen-Einsatz in Österreich), Peter Janko­witsch (Die Suche der Zweiten Republik nach außenpolitischen Leitlinien), Andreas Resch (Der österreichische Osthandel im Spannungsfeld der Blöcke), Martin Malek (Österreich und der Auflösungsprozess des Warschauer Paktes 1989–1991), Horst Pleiner (Österreich und die NATO am Ende des 20. Jahrhunderts), Berthold Molden (Die Ost-West-Drehscheibe. Österreichs Medien im kalten Krieg).

Da eine eingehende Diskussion jedes einzelnen Beitrages in diesem Format nicht möglich ist, werden einige Haupterkenntnisse aus der Lektüre des Gesamtwerkes thesenhaft dargestellt: Der als Resultat des Zweiten Weltkrieges entstandene „neutrale Kleinstaat Österreich“ (S. 325) kann während des gesamten Untersuchungszeitraums von 1955 bis 1990 als für beide Blöcke strategisch relevant angesehen werden. Thoß macht deutlich, welche Rolle Österreich für das westliche Bündnissystem in dessen ersten 20 Jahren spielte. Letztlich zeichnet er das Bild eines formal neutralen, aber in seiner militärpolitischen Ausrichtung westlichen Staates mit Einschränkungen. Beispielsweise war bereits 1949 für Österreich zwar „aus politischen Gründen“ kein NATO-Beitritt vorgesehen, doch wurden US-Militärhilfen in Höhe von 112 Mill. Dollar geleistet (S. 44–45). Die Bedeutung des Alpengebietes im Fall eines kriegerischen Ost-West-Konfliktes hatte der damals für die amerikanisch geführte Organisation Gehlen arbeitende Generalleutnant a. D. Adolf Heusinger bereits herausgearbeitet. Die Alpen stellten somit einen Eckstein der westdeutschen und damit europäischen Verteidigung dar.

Thoß erklärt sachkundig, wie innerhalb der NATO großräumig in geostrategischen Dimensionen gedacht und geplant wurde, wobei Österreich in seinen politischen Grenzen lediglich einen Teil eines Gesamtraums darstellte. So kam für den Schutz des im NATO-Gebiet liegenden Oberitalien „der Schweiz und Jugoslawien als den Eckpfeilern einer Alpenverteidigung […] deutlich höheres Gewicht zu“ (S. 49).

Der österreichische Staatsvertrag (1955) und die damit verbundene Neutralisierung Österreichs brachte der NATO endgültig das militärische Problem einer „Unterbrechung der Nord-Süd-Verbindungen“. Im Zusammenwirken mit der „sowjetisch-jugoslawischen“ Annäherung bedeutete dies für das westliche Militärbündnis eine „geostrategische Verschlechterung der eigenen Lage“, die besorgt als „militärisches Vakuum“ (Geh­ler) thematisiert wurde. So stellte sich angesichts der Krisen des Jahres 1958 die Frage, ob Österreich im Kriegsfalle „Durchmarschland der NATO oder Aufmarschland und Operationsbasis gegen Norditalien und Bayern für den Warschauer Pakt“ sein würde. Müller schließt in seinen Betrachtungen zum Warschauer Pakt und Österreich an diese Überlegungen an. Hierbei wird deutlich, dass die gleiche – freilich reziproke – Logik auch für die Sowjetunion galt und deren Österreich-Politik bestimmte. Die Neutralität Österreichs stellte nicht den „Sperriegel“ (S. 152) dar, den die Alpenrepublik zwischen den NATO-Staaten Westdeutschland und Italien hätte bilden können. Dennoch war Österreichs Neutralität für den Ostblock von Vorteil. „Dieses militärstrategische Interesse bestand aber nur, so lange Österreich seine […] Funktion als Barrikade gegen die Nord-Süd-Kommunikation“ der NATO erfüllte (S. 152). Entsprechend versuchten sowjetische Führer, Österreich „so neutral wie möglich“ (Rauchensteiner, S. 11) zu halten, wobei sehr wohl seitens des Warschauer Paktes Durchmarschplanungen für Österreich bestanden. Ausführlich werden diese Pläne durch den Zeitzeugen Philipp in seinem Beitrag über das Verteidigungsszenario Österreichs im Falle einer sowjetischen Aggression behandelt.

Während Philipp diese Problematik aus österreichischer Perspektive beleuchtet, zeigt Korkisch aus Perspektive der Supermächte, dass ein Stoß vom Süden der ČSSR aus durch das Donautal bzw. nördlich und südlich davon in Richtung Inn und Süddeutschland eine wichtige sowjetische Option darstellte. In dieses Szenario gehörte auch der Einsatz von Atomwaffen ostwärts und westlich von Wien sowie im Alpenvorland und beim Heraustreten in die Welser Heide (S. 403-404). Österreich galt insgesamt in den sowjetischen militärischen Überlegungen als „Feindstaat“. Es stellte zwar kein primäres Kriegsziel, aber einen Aufmarschraum dar. Entsprechend wahrscheinlich erschien aus westlicher Sicht im Kriegsfall – insbesondere aufgrund der schwachen Verteidigungskapazitäten Österreichs – ein möglicher Einsatz von Atomwaffen zum Abriegeln des westösterreichischen Raumes gegen einen raschen sowjetischen Vorstoß in der Welser Heide (S. 435). Auch der Westen hatte also seine Einsatzpläne für Österreich. Diese waren zwar defensiv ausgelegt, doch bleibt die Unterscheidung angesichts des nuklearen Zerstörungspotentials aus österreichischer Sicht eher akademisch.

Weite Teile der österreichischen Schaukelpolitik können als Reaktion auf diese vitale Problematik gedeutet werden. Rauchensteiners Einlassung, dass während aus österreichischer Perspektive politisch der Staatsvertrag von 1955 die wesentliche Zäsur darstellte, dies im Rahmen des Militärischen nicht der Fall gewesen sei, kann als ein Fazit des Buches betrachtet werden. Während des gesamten „Zeitalter des Kalten Krieges“ stellte für Österreich die Sowjetarmee den prinzipiellen militärischen Gegner bzw. die Hauptbedrohung dar. Bei jeder zukünftigen Betrachtung der Neutralität Österreichs wird dieses Faktum zu berücksichtigen sein.  

Am Ende sei noch etwas formale Kritik erlaubt: Die einzelnen zwischen 40 und 70 Seiten starken Beiträge sind alle aufschlussreich und beziehen sich aufeinander, sie sind aber hinsichtlich ihrer Quellenbasis recht unterschiedlich. Das Werk vereint Fachhistoriker und „Männer der Praxis“. Dieser Ansatz, hochkarätige Zeitzeugen mit einzubinden, ist ausdrücklich zu begrüßen. Akademisch korrekter wäre es allerdings gewesen – trotz der unbestreitbaren akademischen Qualifikation aller Autoren – diese Zeitzeugenberichte auch als solche kenntlich zu machen. Der Herausgeber leitet das Buch erklärend ein, wobei auch die Relevanz der einzelnen Beiträge und deren Hauptthesen deutlich gemacht werden. Leider fehlt aber eine die Ergebnisse zusammenfassende und miteinander vergleichende Schlussbetrachtung, so dass der Leser die Hauptthesen des Buches aus den einzelnen Beiträgen zusammensammeln muss. Die Ausstattung mit Karten und Faksimiles von Schlüsseldokumenten ist angemessen und hilfreich.  

Agilolf Keßelring, Porvoo, Finnland

Zitierweise: Agilolf Keßelring über: Zwischen den Blöcken. NATO, Warschauer Pakt und Österreich. Hrsg. von Manfried Rauchensteiner. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2010. 817 S., Abb., Ktn., Tab., Graph. = Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, 36. ISBN: 978-3-205-78469-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Kesselring_Rauchensteiner_Zwischen_den_Bloecken.html (Datum des Seitenbesuchs)

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