Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Agilolf Keßelring

 

Michael Jonas: NS-Diplomatie und Bündnispolitik 1935–1944. Wipert von Blücher, das Dritte Reich und Finnland. Paderborn [usw.]: Schöningh, 2011. 687 S. = Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart. ISBN: 978-3-506-76928-2.

Das 630 Textseiten starke Werk aus der Feder von Michael Jonas ist eine überarbeitete Fassung seiner an der Universität Helsinki 2009 eingereichten Dissertationsschrift Wipert von Blücher und Finnland, Alternativpolitik und Diplomatie im „Dritten Reich“. Es beruht auf einer Vielzahl von Blücher hinterlassener Selbstzeugnisse (gedruckte Memoiren, deren ungedruckte Frühfassungen, Tagebücher, autobiographische Skizzen) sowie auf  dessen reichhaltigen dienstlichen und privatdienstlichen Berichtsaktivitäten als Gesandter und – besonders interessant – auf dessen alternativpolitischen Denkschriften. Hinzu kommen im Laufe der Entnazifizierungsverfahren entstandene Schriftstücke, die Blücher als Gegner des Nationalsozialismus zeigen. Die angelegte scharfe Quellenkritik macht dabei die ausgesprochene Stärke der hier zu besprechenden Arbeit aus. So erliegt Jonas nicht dem in der Nachkriegszeit publizierten Selbstbild Blüchers, sondern zeichnet dagegen die Einstellung eines reaktionären Berufsdiplomaten, dessen politische Anschauungen sich einerseits teilweise mit Aspekten nationalsozialistischer Außenpolitik (etwa Deutschland als Hegemonialmacht, Antibolschewismus) deckten, der aber andererseits gerade als Reaktionär einem erklärten Feindbild der Nationalsozialisten entsprach.

In seiner Anlage orientiert sich das Buch in chronologischer Folge am Leben des deutschen Gesandten in Finnland. Der Schwerpunkt – etwa vier Fünftel des Textes – liegt auf den „finnischen Jahren“ Blüchers von 1935 bis 1944. Dabei steht Blücher in seiner Eigenschaft als Diplomat am Knotenpunkt deutscher und finnischer Geschichte. Die schwierige Verortung Blüchers im bzw. gegenüber dem nationalsozialistischen System und seine schwer zu fassende Position zwischen innerem Widerstand, Formulieren von alternativpolitischen Vorschlägen, Obstruktion, Erfüllung und Ausharren am Platz kann als spannendes Leitmotiv der Arbeit verstanden werden.

Jonas Ambition, „über die politische Biographie Blüchers einen neuen Zugang zur deutschen Finnlandpolitik […] aufzutun“ (S. 11), ist indes möglicherweise etwas zu hoch angesetzt. Er untersucht verdienstvoll Blüchers Rolle im Winterkrieg (1939/40), in der Zeit des „Zwischenfriedens“ und in dem zum deutschen „Unternehmen Barbarossa“ komplementären sogenannten „Fortsetzungskrieg“ gegen die Sowjetunion. Zwangsläufig befasst sich damit etwa die Hälfte des Untersuchungszeitraumes mit Diplomatie im Kriege. Hier ergibt sich ein – dem im Kern biographischen Zuschnitt der Arbeit geschuldetes – methodisches Problem. Dem selbstgestellten Anspruch, eine „Genesis der deutsch-finnischen Militärallianz“ (Manfred Menger) darzustellen, kann der Autor nicht voll gerecht werden. Schließlich spielte das Auswärtige Amt und sein Exponent, der Gesandte von Blücher, dabei zunehmend nur eine zweitrangige Rolle. Die im Buchtitel so prominent erscheinende „NS-Diplomatie und Bündnispolitik“ wurde – dies beschreibt der Autor auch sachkundig – in zunehmendem Maße außerhalb des Auswärtigen Amtes gemacht. Außen- und Bündnispolitik gegenüber Finnland betrieb im Dritten Reich nicht nur Ribbentrop, sondern konkurrierend im Untersuchungszeitraum auch u. a. Halder, Göring und Himmler. Für weite Teile der Bündnispolitik vor Ort war Blücher gar nicht zuständig, sondern General der Infanterie Waldemar Erfurth als „Verbindungsoffizier im finnischen Generalstab“. Von Jonas Werk ist auch eine Übersetzung in das Finnische erschienen, so dass dieses auch in der finnischen Geschichtswissenschaft wahrgenommen worden ist. Dabei wird Jonas Kenntnis des finnischen Forschungsstandes und der historiografischen Debatten im Allgemeinen hervorgehoben. Ob von einer Arbeit dieses Zuschnitts, wie Markku Jokisipilä kritisch angemerkt hat, eine feinere Differenzierung der unterschiedlichen innerfinnischen politischen Ansätze der Zeit gefordert werden kann, sei dahingestellt. Wesentlicher erscheint die Kritik, dass Jonas gewisse finnische Quellen militärpolitischer Provenienz (etwa den Nachlass des finnischen Generalstabschefs und somit Erfurths ersten Ansprechpartners, des (Jäger-)Generals der Infanterie Erik Heinrichs) nicht genutzt habe. Hier klaffen der Anspruch, Bündnispolitik zu beschreiben, und die Wirklichkeit eines personenzentrierten Werkes auseinander. Auch solche asymmetrische militärische Bündnispolitik wie die deutsch-finnische in der zweiten Hälfte des Zweiten Weltkrieges ist nicht als ‚Einbahnstraße‘ und schon gar nicht ohne Einbeziehung des gemeinsamen Gegners analytisch fassbar. In einer Studie, die das Auswärtige Amt und den deutschen Gesandten in den Mittelpunkt rückt, fehlen konsequenterweise solche entsprechend wichtigen Facetten.

Dieses Manko wäre durch die Wahl eines bescheideneren Ansatzes lösbar gewesen. Obwohl die Kriegsdiplomatie einen wesentlichen Untersuchungsgegenstand darstellt und sich auch reichliche Exkurse zu militärgeschichtlichen Fragestellungen – etwa zur Debatte über die „Deutsch-Finnische Waffenbrüderschaft in Theorie und Praxis“ – finden, wird der wohl primär bestimmende Faktor in den deutsch-finnischen Beziehungen, nämlich der Faktor Sowjetunion, vernachlässigt. Dort, wo er berücksichtigt wird, geschieht dies ohne tiefere Kenntnis des internationalen Forschungsstandes zur Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg. So ist etwa die These, Stalin habe vor dem Winterkrieg mit der Forderung nach dem Stützpunkt Hanko lediglich defensive Vorkehrungen getroffen (S. 148–164) nicht belegbar und in den Bereich sowjetisch-britischer Propaganda zu verweisen. In Kombination mit auf den Kriegseintritt Finnlands 1941 bezogenen Sätzen wie: „das Odium des Aggressors abzustreifen“ (S. 292), werden solche Behauptungen zunehmend problematisch, insbesondere, wenn wenige Seiten später von „ansatzweise ideologischer Kontaminierung der finnischen Kriegsbeteiligung, die sich vor dem Hintergrund großfinnischer Diskurse nationalsozialistischen Denkkategorien annäherte“, (S. 300–301) die Rede ist. Bekanntlich wurden großfinnische Ideen im Zweiten Weltkrieg auch seitens der sowjetischen Führung propagiert, wenn auch freilich bezogen auf eine großfinnische Sowjetrepublik unter Kuusinen. Solch eine Interpretation der finnischen Geschichte beruht offensichtlich auf der nicht belegbaren Annahme, dass eine „Finnische Sowjetrepublik“ von Stalins Gnaden anders mit dem finnischen Bürgertum umgegangen wäre als mit einem Großteil der estnischen oder polnischen Bevölkerung – auch hier argumentierten die Sowjetführer bekanntlich mit Defensivforderungen. So begrüßenswert es auch ist, nationalfinnische historiographische Mythen zu dekonstruieren, so falsch ist es, diese auf dem Umweg kritikloser Rezeption der DDR-Geschichtsschreibung durch Mythen aus der stalinistischen Sowjetunion zu ersetzen.

Bei aller Kritik an nicht unbedingt im Fokus der Fragestellung liegenden Punkten soll hier aber betont werden, dass es sich bei dieser klassischen, bilateralen diplomatie­geschichtlichen Studie über den verantwortlichen Akteur der Diplomatie des Auswärtigen Amtes gegenüber Finnland, um ein quellengesättigtes und  ‚gescheites Buch‘ voller interessanter Details handelt. Denjenigen, die der finnischen Sprache nicht mächtig sind, bietet das Werk darüber hinaus einen hervorragenden Zugang zur deutsch-finnischen Geschichte und zu spezifisch finnischen Geschichtsdebatten. Es wird somit noch lange Bestand haben.    

Agilolf Keßelring, Porvoo, Finnland

Zitierweise: Agilolf Keßelring über: Michael Jonas: NS-Diplomatie und Bündnispolitik 1935–1944. Wipert von Blücher, das Dritte Reich und Finnland. Paderborn [usw.]: Schöningh, 2011. 687 S. = Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart. ISBN: 978-3-506-76928-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Kesselring_Jonas_NS-Diplomatie_und_Buendnispolitik.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2015 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Agilolf Keßelring. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.