Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Steffi Keil

 

Jelena Wall / Dietmar Neutatz: Ein Weg durch Russland. Die autobiographischen Aufzeichnungen des Russlanddeutschen Jakob Wall über sein Leben in der Deportation. Hrsg. von Jelena Wall / Dietmar Neutatz. Essen: Klartext, 2014. 336 S., 16 Abb. = Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa, 44. ISBN: 978-3-8375-1050-8.

Der Traum eines Schriftstellers besteht laut Jorge Semprun darin, sein gesamtes Leben lang an einem Text zu arbeiten und diesen ständig zu verbessern. Ähnlich verhielt sich der Autor der kürzlich erschienen Lebensaufzeichnungen, der Russlanddeutsche Jakob Wall. Der in Freiburg wirkende Prof. Dr. Dietmar Neutatz und Jelena Wall, die Enkelin des Schreibers und Studentin an der Uni Freiburg, haben eine Edition der Memoiren mit – und das ist das Besondere – zwei zu unterschiedlichen Zeiten entstandenen Versionen des Textes zuzüglich eines einführenden Kapitels der Herausgeber veröffentlicht. Jelena Walls Großvater wollte, dass seine Erinnerungen bei sich bietender Gelegenheit verwendet werden. So wandte sich Jelena Wall an den Betreuer ihrer Magisterarbeit, Dietmar Neutatz, der mit ihr gemeinsam die Texte edierte.

Der Verfasser der Memoiren, ein nach Sibirien deportierter Russlanddeutscher Mennonit dokumentiert in seinen Aufzeichnungen zentrale Aspekte der Geschichte der Russlanddeutschen im 20. Jahrhundert, die Kriegs- und Nachkriegszeit. 1928 in Medern­tal, Gouvernement Samara, geboren, wurde Wall mit 13 Jahren nach Sibirien deportiert und durchlebte die Deportation, die Sondersiedlung, die Trudarmija, die Xenophobie gegen Deutschstämmige und den Stalinismus, weswegen die Ego-Dokumente besonderen Wert für die Geschichtsforschung haben. Hinzu kommt die vermittelte Alltagsgeschichte der Russlanddeutschen im genannten Zeitraum, über die Historiker bisher vergleichsweise wenig wissen.

Wall schrieb seine Lebensgeschichte zwei Mal: Einmal um 1960 in Kasachstan und das zweite Mal 1995 in Deutschland, wohin er in den 1980er Jahren emigriert war. Die erste Version entstand in russischer Sprache, da der Verfasser davon ausging, seine Enkel würden nur noch Russisch verstehen. Nach seiner Emigration nach Deutschland entschied sich der Autor, eine zweite und nun deutsche Fassung niederzuschreiben, da er vermutete, seine Enkel würden kein Russisch mehr sprechen. Beide Texte sind zwar mit mangelnden Rechtschreib- und Grammatikkenntnissen verfasst, doch trotzdem weitestgehend gut zu verstehen. Die Intention des Autors war es, Erinnerungen für die Nachkommenschaft zu hinterlassen. Die Editoren weisen darauf hin, dass das Memoirenschreiben in der Sowjetunion der 1960er Jahre populär gewesen sei, sowie darauf, dass besondere Erlebnisse, beispielsweise Kriege, Menschen dazu anregen, ihr eigenes Leben in einen größeren historischen Kontext zu stellen (S. 19). Dies, das „besondere“ Leben, spielte sicherlich auch bei Jakob Wall eine Rolle, was seine eigene Aussage, dass er den Endpunkt seiner Memoiren in einer Zeit der Normalität setzte, beweisen (S. 32).

Die erste, russische Version wurde von den Herausgebern vorsichtig ins Deutsche übersetzt, und zusammen mit der deutschen Fassung ergeben alle drei Texte eine höchst gelungene, dreispaltig veröffentlichte Paralleledition. Dadurch werden im jüngeren Text vorgenommene Auslassungen oder Ergänzungen sofort sichtbar. Im Vergleich der zwei Fassungen zeigt sich eindrucksvoll, wie sich Erinnerungen im Lauf der Zeit komprimieren, wie sie ihren Detailreichtum verlieren. Der Grund für das Auslassen von Passagen liegt in der Umformung der Erinnerung; Geschichten, die später keinen Einfluss mehr auf das Leben des Autors hatten, wurden unwichtig und gerieten in den Hintergrund, während sie in den 60er Jahren von Wall noch detailliert beschrieben wurden. Darin liegt die Problematik der Erinnerung: Sie reduziert Unwichtiges, nivelliert Tatsachen und potenziert Vorkommnisse und Dinge, die sich in später erkennbare Handlungsketten einreihen, was nicht nur an der Entfremdung zu Orten, Umständen, Personen etc. liegt, sondern am Verlauf des weiteren Lebens. Genau dies zeigt die Edition lückenlos und auf einzigartige Art und Weise auf.

Die eben genannte Problematik, mit der sich Historiker im Umgang mit Ego-Dokumenten beschäftigen müssen, sprechen die Herausgeber im Einführungstext an. Sie veranschaulichen das Problem der Erinnerung zudem mit Hilfe mehrerer sehr anschaulicher Beispiele: So weisen sie auf das Thema Religion hin, welches in der älteren Fassung nur ein Mal erwähnt wird, wohingegen die jüngere Fassung zahlreiche Gebete schildert. Die Erklärung, dies liege an den Umständen der sowjetischen Religionspolitik, scheint einleuchtend (S. 24). Interessant ist auch der Begriff Faschist, der in der deutschen Fassung viel öfter als in der russischen vorkommt. Auch hier könnte der Grund in der sowjetischen Politik liegen oder auch bei den Adressaten. Doch darf nicht vergessen werden, dass sich Jakob Walls Erinnerungen an diese Form der Diskriminierung mit den Jahren vermutlich intensiviert haben. Andere Erinnerungen wurden trübe, was sich im deutschen Text an fehlenden Zitaten im Vergleich zur jüngeren Version deutlich erkennen lässt (Beispiele S. 136, 139).

Weiterhin thematisieren Neutatz und Jelena Wall in ihrer Einführung die verschiedenen Aspekte, in der Edition Leitthemen genannt, der zwei Dokumente: Neben dem Alltagsleben während der Deportation wird auf die Zeit der Sondersiedlungen verwiesen, die bisher in der Forschung wenig Beachtung fand. Doch hätten an dieser Stelle die Heimatbücher der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland erwähnt werden können, welche voller Erinnerungen stecken. Der einleitende Text leistet zudem eine Hinführung zum Thema Russlanddeutsche allgemein und im Speziellen zu den Russlanddeutschen im Gebiet Samara, den russlanddeutschen Mennoniten, den Deportationen, den Sondersiedlungen und der Trudarmija. Zwar wird die Geschichte hier heruntergebrochen, doch ist dies dem Rahmen der Edition vollkommen angemessen, da die wichtigsten Verhältnisse geklärt werden. Zudem wird in der Einleitung der Forschungsstand angesprochen und auf Lücken hingewiesen.

Edition und Einführungstext können als äußerst gelungen betrachtet werden. Sie erweitern unsere Kenntnis der Lebens- und Erfahrungswelt der Russlanddeutschen im 20. Jahrhundert entscheidend.

Steffi Keil, Leipzig

Zitierweise: Steffi Keil über: Jelena Wall / Dietmar Neutatz: Ein Weg durch Russland. Die autobiographischen Aufzeichnungen des Russlanddeutschen Jakob Wall über sein Leben in der Deportation. Hrsg. von Jelena Wall / Dietmar Neutatz. Essen: Klartext, 2014. 336 S., 16 Abb. = Veröffentlichungen zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa, 44. ISBN: 978-3-8375-1050-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Keil_Wall_Ein_Weg_durch_Russland.html (Datum des Seitenbesuchs)

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