Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Steffi Keil

 

Sicherheitskulturen im Vergleich. Deutschland und Russland/UdSSR seit dem späten 19. Jahrhundert. Hrsg. von Arnd Bauerkämper / Natalia Rostislavleva. Paderborn [usw.]: Schöningh, 2014. 257 S., 1 Kte, 3 Tab. ISBN: 978-3-506-77721-8.

Inhaltsverzeichnis:

http://d-nb.info/1051101786/04

 

Sicherheitskulturen umfassen ein ganzes Bündel von (Ordnungs-)Vorstellungen, Praktiken und Aushandlungsprozessen, die sich kontinuierlich verändern, anpassen und weiterentwickeln.“ Der vorliegende Band, der in der Folge einer Konferenz entstanden ist, beschäftigt sich mit Sicherheitskulturen in Deutschland und Russland bzw. der Sowjetunion im Vergleich und nimmt teil an aktuellen Debatten über die Sicherheitsbedürfnisse verschiedener Staaten und deren Bürger. Aus historischer Perspektive beleuchten 14 Beiträge das Thema (7 Beiträge sind in deutscher und 7 in russischer Sprache verfasst) und nähern sich ihm aus verschiedenen Blickwinkeln, was bedeutet, dass auch verschiedene Epochen untersucht werden. Dazu ist die Publikation neben einer Einleitung in vier Kapitel unterteilt.

Die Einleitung wurde vom Herausgeber Arnd Bauerkämper verfasst. Klassisch werden Begrifflichkeiten geklärt, es wird exzellent zum Thema hingeführt und die enorme Importanz der staatlichen Sicherheitspolitik beleuchtet. Dabei wird auf das Spannungsverhältnis zwischen Schutz und Bedrohung der individuellen Freiheit durch staatliche Sicherheitspolitik aufmerksam gemacht. Der Band schreibt sich berechtigterweise einen Beitrag zur entstehenden historischen Sicherheitsforschung zu. Erst auf Seite 21 wird der Begriff Sicherheitskultur geklärt, was der üppigen Einleitung geschuldet ist. Der Begriff zielt auf politisches und gesellschaftliches Handeln ab, das infolge wahrgenommener Sicherheitsprobleme von einflussreichen Akteursgruppen definiert wurde (S. 25), wobei sich Maßnahmen zugunsten der Sicherheit, bspw. Gesetze, im 20. Jahrhundert zu Sicherheitskulturen verdichteten. (S. 24) Demnach sind Sicherheitskulturen „diejenigen Werte, Diskurse und Praktiken, die dem auf Erzeugung von Sicherheit und Reduzierung von Unsicherheit gerichteten sozialen Handeln individueller und kollektiver Akteure Sinn und Bedeutung geben“ (S. 25).

Insgesamt stellt sich der Band der Aufgabe, historische Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Russland/Sowjetunion und Deutschland festzustellen und zu erklären, wobei Transfer- und Verflechtungsgeschichte anhand der drei Themen Terrorismus, Sozialpolitik sowie politische und gesellschaftliche Prozesse aufgezeigt werden soll. Diese Aufgabe erfüllt der Band mit Bravour und auf hohem Niveau.

Der erste Abschnitt beschäftigt sich mit der Sicherheit in der russischen Politik und Geschichtsschreibung im frühen 20. Jahrhundert. Zwei russische Aufsätze sind hier zugeordnet. Alexandra Bachturina beschäftigt sich mit der Russifizierungspolitik als „Schaffung einer Sicherheitsordnung und eines Systems für den Schutz der Staatsinteressen“ (S. 52), wobei die Festigung des nationalen Kerns wichtig war. Sie erklärt die Russifizierungspolitik als Folge des Wunsches nach Festigung der Staatsgrenzen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Bachturina arbeitet diesen Aspekt überzeugend heraus. Auch der zweite Aufsatz des ersten Kapitels zeugt von hohem Niveau. Na­ta­lia Rotislavleva, die Mitherausgeberin, zeigt den Einzug freiheitlicher und sicherheitspolitischer Probleme in die russische Geschichtsschreibung an der Jahrhundertwende auf. Rotislavleva liefert einen neuen Aspekt, indem sie biographische Eckdaten zweier russischer Geisteswissenschaftler, liberaler Politiker und Universitätsprofessoren im Zusammenhang mit der Frage nach Sicherheit und Freiheit untersucht. Der Auftakt des Bandes ist spannend, spricht neue Aspekt an und zwingt den Leser regelrecht dazu, das Buch weiterzulesen.

Auch der zweite Abschnitt, welcher sich mit Unsicherheiten in der Zwischenkriegszeit und deren Auswirkung auf die Sicherheitskulturen nach 1945 beschäftigt, führt das hohe Niveau weiter. Hier sind es fünf Aufsätze, drei in Russisch und zwei in Deutsch, welche sich dem Thema nähern. Den Auftakt macht Ilya Zhenin mit seinem Beitrag über die Weimarer Republik im politischen Diskurs Russlands an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert. Danach folgt Christine Hikel mit einem Aufsatz zu Debatten über politische Gewalt in der Weimarer Republik und in der Bundesrepublik Deutschland. Sie stellt fest, dass Sicherheitskulturen über den Ist- und Soll-Zustand einer Gesellschaft Auskunft geben, da sie sich im Spannungsfeld von Erfahrung und Erwartung sowie auch der Gegenwart bzw. von Vergangenheit und Zukunft bewegen. Die Rückbesinnung auf die historische Erfahrung der Weimarer Republik prägte das Sicherheitsverhalten der BRD. Der Beitrag von Klaus Neumann über die Weimarer Republik und das Projekt der sozialen Sicherheit in unsicheren Zeiten sticht aus dem Abschnitt durch seine konkrete Sprache und Herangehensweise an das Thema heraus. Nach einer Definition von sozialer Sicherheit als politischem Begriff (die Weimarer Verfassung gab ein umfassendes Schutzversprechen gegenüber dem Bürger, z.B. Schutz der Gesundheit, Arbeitsfähigkeit etc.) stellt Neumann fest, dass der Ansatz der Sicherheitskultur zum Verständnis der Geschichte von Betriebsräten zu verwenden sei, da Betriebsräte ein Versuch sind, „soziale Sicherheit im Betrieb herzustellen“ (S. 130). Den Abschluss bildet ein Beitrag von Grigorij Stepanov, der sich mit der Jugend- und Sicherheitspolitik der Staatssicherheit in der DDR beschäftigt. Laut seinem Fazit zeigt die Geschichte der DDR, dass „eine Staatsmacht, die das Grundrecht des Menschen auf Freiheit einschränkt und in jedem Ausdruck einer anderen Gesinnung und von Ablehnung eine Gefahr der Sicherheit des Staates sieht, äußerst kurzsichtig agiert“ (S. 135). Diese Feststellung ist nicht neu, allerdings bezieht Stepanov den Zerfall der DDR auf die neue Jugendgeneration und deren Verständnis von Sicherheit. Insgesamt sind auch die Beiträge des zweiten Abschnitts sehr gut geschrieben und fügen sich thematisch einwandfrei in die Konzeption des Sammelbandes ein.

Die vier Aufsätze des dritten Abschnitts befassen sich mit supranationalen Organisationen und grenzüberschreitenden Organisationen. Aleksej Sindeev schreibt über die Rolle der BRD bei der Entstehung der neuen Sicherheitskultur Europas, wobei er das Fazit zieht, dass dabei Sicherheit nicht auf einem abgestimmten inhaltlichen Fundament basiere, sondern auf der Hoffnung auf erfolgreiche Zusammenarbeit. (S. 147) Mariette Fink beschäftigt sich im darauffolgenden Aufsatz mit dem Wandel des Verständnisses von sozialer Sicherheit im Rahmen zunehmender grenzübergreifender Zusammenarbeit. Mit viel sprachlichem Geschick kommt sie zu dem Schluss, dass die europäische Integration sowohl Ergebnis als auch Einflussfaktor der sozialen Sicherheit und der Sicherheitskultur darstellt. (S. 180) Zudem zeigt sie auf, dass eine soziale Sicherheitskultur im europäischen Raum nicht vorhanden ist, da die verschiedenen Staaten nicht „den gleichen Ausgangspunk sowie gleiche Werte, Interessen, Entwicklungen und Einflüsse“ (S. 180) aufweisen. Auch die zwei weiteren Beiträge überzeugen durch ihre exakte sprachliche und inhaltliche Ausarbeitung.

Der vierte und letzte Abschnitt ist mit zwei Beiträgen das schlankeste der Publikation. Es beschäftigt sich mit Sicherheitskulturen unter dem Einfluss des neuen Terrorismus seit 2011. Alexander Schrepfer-Proskurjakovs Aufsatz sticht durch Schaubilder und Tabellen heraus. Er kommt in seinem Beitrag über Terror, Sicherheitskulturen und Medien am Beispiel des Nordkaukasus-Konflikts in Russland zu der Erkenntnis, dass Medien Überzeugungen, Werte, Handlungsweisen von Individuen und Organisationen beeinflussen und damit schlussendlich über die Sicherheitskultur der Gesellschaft (mit-)entscheiden. Der letzte Aufsatz ist dem Sicherheitsdenken in Russland von 1990 bis 2012 und der damit in Verbindung stehenden Rolle Deutschlands gewidmet. Christian Wipperfürth führt mit diesem Beitrag die Publikation zu einem exzellenten Ende, indem er unter anderem einen Ausblick in die Zukunft gewährt.

Es gibt an dem Sammelband nichts zu bemängeln! Im Gegenteil – es gilt ihn in den höchsten Tönen zu loben: Er ist nah am aktuellen Forschungsstand, behandelt neue Themen und dies auf höchstem wissenschaftlichen und sprachlichen Niveau. Sehr zur Lektüre empfohlen!

Steffi Keil, Leipzig

Zitierweise: Steffi Keil über: Sicherheitskulturen im Vergleich. Deutschland und Russland/UdSSR seit dem späten 19. Jahrhundert. Hrsg. von Arnd Bauerkämper und Natalia Rostislavleva. Paderborn [usw.]: Schöningh, 2014. 257 S., 1 Kte, 3 Tab. ISBN: 978-3-506-77721-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Keil_Bauerkaemper_Sicherheitskulturen_im_Vergleich.html (Datum des Seitenbesuchs)

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