Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.ereviews 6 (2016), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Karl Kaser

 

Andreas Helmedach / Markus Koller / Konrad Petrovszky / Stefan Rohdewald (Hg.): Das osmanische Europa. Methoden und Perspektiven der Frühneuzeitforschung zu Südosteuropa. Leipzig: Eudora, 2014. 506 S., Graph., Tab. ISBN: 978-3-938533-30-7.

Wann Europa beginnt und wo es endet gehört zu den Fragen, die wohl nie widerspruchsfrei oder gar zufriedenstellend beantwortet werden können. Das ab der Mitte des 14. Jahrhunderts auch in Europa expandierende politische Gebilde, das später als Osmanisches Reich bezeichnet werden sollte, erschwert die Beantwortung des zweiten Teils der Frage beträchtlich, handelte es sich doch um ein dreikontinentales Imperium, das vorerst keine Anstalten zeigte, sich (west)europäischer Muster in Hinblick auf seine kulturell-religiöse Orientierung, Verwaltung, gesellschaftliche Strukturierung und ökonomischen Kriterien zu bedienen. Weshalb auch? Es gab für das auf islamischen Prinzipien und manchen byzantinischen Fundamenten gegründete Reich genügend andere und bedeutendere islamstaatliche Anknüpfungspunkte, die bis in das siebte Jahrhundert zurückreichen. Der europäischen Frühneuzeithistoriografie schien daher dieses Reich lange Zeit ein fremder Teil des europäischen Körpers zu sein.

Das Herausgeberquartett des zu besprechenden Bandes hat es sich zum Ziel gesetzt, ein wenig an dieser relativ starr erscheinenden Haltung zu drehen, um der Frühneuzeitforschung etwas von ihrer latenten Westeuropazentriertheit zu nehmen und die Geschichte des Osmanischen Reichs zu europäisieren (S. 10–11). Es sieht sich in diesem Unterfangen auch durch den Umstand bestärkt, dass die Historiografien der sich aus dem Osmanischen Reich im Verlauf des 19. und frühen 20. Jahrhunderts loslösenden europäischen Nationalstaaten ähnliche, wenngleich jeweils anders bezeichnete und bewertete Epochengliederungen konstruieren, die in das Konzept der Frühen Neuzeit nach westeuropäischem Zuschnitt integrierbar sind. Ein solche bleibt, so der Befund, allerdings noch ohne größeren Widerhall (S. 13–21). Daher stellen die Herausgeber auf etwas mehr als zwei Seiten das Programm eines „osmanischen Europa“ als alternatives Raum- und Epochenkonzept erneut zur Diskussion. Es sei ursprünglich bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts vorgeschlagen worden, habe sich bislang allerdings noch nicht durchsetzen können. Als Gründe für dessen erneute Forcierung werden die „engen Bezüge [des Osmanischen Reichs] zum europäischen Kontinent“ wie auch „die Verzahnung einer vermeintlich geschlossenen europäischen Geschichte mit der außereuropäischen, in diesem Fall der islamischen Welt des Vorderen Orients und Nordafrikas“ hervorgehoben (S. 23).

Es ist die deklarierte Absicht, „in vier thematisch strukturierten Abschnitten einige methodische Ansätze und Fragestellungen der historischen Frühneuzeitforschung im Hinblick auf deren Anwendbarkeit für die Geschichte des ‚osmanischen Europas‘ zu diskutieren.“ (S. 23) Daraus können wir ableiten, dass es in dem Band nicht darum gehen soll, das „osmanische Europa“ in die Frühneuzeitforschung en bloc zu integrieren, sondern lediglich auf parallele und kreuzungsgeschichtliche Entwicklungen hinzuweisen.

Bevor ich auf inhaltliche Gesichtspunkte zu sprechen komme, möchte ich auf einige bemerkenswerte formale Aspekte des Sammelbandes hinweisen. Dieser ist nämlich keineswegs aufwändig, sondern auf das Notwendigste reduziert aufgemacht. Diese Reduktion geht so weit, dem Leser oder der Leserin üblicherweise angebotene Services vorzuenthalten: die Einleitung ist sehr schlank gehalten und vermeidet theoretische und methodologische Eskapaden; einen Index, bei einem Gesamtvolumen von etwa 500 Seiten durchaus angebracht, gibt es nicht; selbst biografische oder/und fachliche Hinweise über die Herausgeber und Beiträger (und die wenigen Beiträgerinnen) fehlen. Der Band erschließt sich also nicht von selbst, sondern wir müssen uns die entsprechenden Infor­mationen erst ergooglen.

Die 19 Beiträge des Sammelbandes sind in vier Kapitel gegliedert, nämlich in: Herrschaft – Macht – Gewalt, Wirtschaft, Religionskulturen sowie Zeitwahrnehmung – Geschichtsdeutungen. Jedes dieser Kapitel wird von einem programmatischen Text eingeleitet, der von einigen der Herausgeber gemeinsam oder zumindest unter der Mitwirkung eines Herausgebers verfasst wurde. Diese Texte enthalten in unterschiedlicher Dichte teilweise tatsächlich das, was der Untertitel des Bandes verspricht, nämlich „Methoden und Perspektiven der Frühneuzeitforschung zu Südosteuropa“. Dies ist bei den meisten restlichen Kapitelbeiträgen in der Regel nicht der Fall – ausgenommen etwa der Beitrag Markus Kollers Vom Reich der Osmanen zum Osmanischen Reich – Herrschaft, Macht und Gewalt vom 16. bis zum 18. Jahrhundert oder die methodologisch sehr anspruchsvolle Abhandlung Suraiya Faroqhis Istanbul im 18. Jahrhundert: Wie Handwerker den Stadtraum unter sich aufteilen. Die Kapitelbeiträge behandeln vielfach sehr spezifische Fragestellungen, die zwar dazu dienen, das Forschungsfeld „osmanisches Europa“ abzustecken oder zu markieren, aber dennoch die Frage aufwerfen, für wen der Band in erster Linie gedacht ist. Die Herausgeber äußern sich zu dieser Frage nicht.

Der Einleitungstext zum Kapitel Herrschaft – Macht – Gewalt wurde von Andreas Hel­me­dach und Markus Koller unter einem beinahe gleichlautenden Titel verfasst. Wie von dieser Autorenkombination kaum anders zu erwarten, befasst sich ein Unterabschnitt mit Ähnlichkeiten und Parallelen der Mechanismen und Präsentationen von Herrschaft in weiten Teilen des christlichen Europa und der islamischen Welt. Sie brechen in erfrischender Weise mit der immer wieder geäußerten Auffassung einer Schwächung der osmanischen Staatsmacht im 17. und 18. Jahrhundert, indem sie dieser eine „neue Osmanisierung“ in den fraglichen Jahrhunderten entgegenhalten.

Der einleitende Text zum zweiten Kapitel stammt aus der Feder von Markus Koller und Ralf C. Müller (Zu wirtschaftlichen Strukturen und Institutionen im osmanischen Europa). Er ist ähnlich wie jener zum ersten Kapitel eher forschungsgeschichtlich und daher rückwärtsgewandt anstatt perspektivisch und vorwärtsorientiert konzipiert. So wird beispielsweise die Sinnfälligkeit des Paradigmas „asiatische Produktionsweise“ diskutiert und erneut die Frage aufgeworfen, ob die osmanische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung mit dem Begriff „Feudalismus“ hinreichend beschrieben werden könne; die beiden Autoren kommen hinsichtlich der zweiten Frage zu keiner eindeutigen Antwort, was ein wenig überrascht.

Der einführende Text zum dritten Kapitel – er stammt von Denise Klein und Stefan Rohdewald – ist der spritzigste unter den Einleitungstexten. Religionskulturen – Strukturen, Praktiken, Diskurse öffnet ein wahres Füllhorn an neuen Forschungsfragen und -vorschlägen, die sie aus dem bisherigen Forschungsstand entwickeln. Ihr Beitrag bettet zudem die folgenden Kapitelbeiträge in größere Forschungszusammenhänge ein und verleiht ihnen dadurch angemessene Bedeutung. Dieser Einführungstext bemüht sich offensiv, „das osmanische Europa“ in die Strukturen des westeuropäischen Mittelalters und der Frühen Neuzeit einzubetten oder Kommunikationskreise und Verflechtungsgeschichten beispielsweise zum „türkischen Barock“ oder zum „serbischen Barock“, zur Schia bzw. zum Safawidenreich zu rekonstruieren.

Das vierte Kapitel steht konzeptionell quer zu den bisherigen. Nach Kapiteln über Herrschaft, Wirtschaft und Kultur folgt überraschend eines über Zeitwahrnehmung und Geschichtsdeutungen, das von Dennis Dierks, Konrad Petrovszky und Nikolas Pissis eingeleitet wird. Nicht dass ich der Auffassung wäre, dass Zeitwahrnehmung oder Geschichtsdeutung ein marginales Thema darstellen würde, aber in einem repräsentativen Band über das osmanische Europa würde man sich strukturell Gleichwertigeres wie etwa „Recht und Gewohnheitsrecht“ oder „soziale Konfigurationen“ erwarten. Dabei ist auch dieser Einleitungstext bzw. das gesamte Kapitel in mentalitäts- und ideengeschichtlicher Hinsicht spannend aufbereitet, da er bzw. es den sozialen Konstruktionscharakter von Zeit sichtbar macht.

Die Herausgeber konstatieren, dass „von einer regelmäßigen und selbstverständlichen Einbeziehung osmanischer Geschichte in die Frühneuzeitforschung … namentlich die deutschsprachige Forschung allerdings noch weit entfernt“ (S. 11) sei. Diesem Befund ist zuzustimmen, allerdings stellt sich die Frage, ob es nicht auch gute Gründe dafür gibt. „Disziplinäre Beschränkungen“ und „widerstreitende Periodisierungskonzepte“ (S. 13–21) haben die Herausgeber selber als Gründe angeführt; dem ist gewiss zuzustimmen. Bei all den Bemühungen, Ähnlichkeiten, Parallelen und Überkreuzungen zwischen dem Osmanischen Reich und der westeuropäischen Frühen Neuzeit herauszuarbeiten, bei all den Anstrengungen, die europäischen Verflechtungen des Reichs und die über weite Zeitstrecken exzellenten Beziehungen zwischen Istanbul und Paris aufzudecken, war Istanbul nicht Paris und umgekehrt, und Flandern weist wenige strukturelle Bezüge zu Thrakien oder Ostanatolien auf.

Ich finde es daher schade, dass der umfangreiche Band nicht auch ein Kontra zulässt bzw. kein Kapitel enthält, das sorgfältig die Argumente vorbringt oder zusammenfasst, die gegen das Konzept eines osmanischen Europa sprechen. Auf der anderen Seite finde ich es aber gleichzeitig positiv, dass bislang viel zu wenig beachtete frühneuzeitliche Beziehungsgeflechte in Europa und darüber hinaus offensiv bearbeitet werden. Gemessen an der Erforschung der atlantischen Beziehungen Europas sind die Forschungen zu den eurasischen Beziehungsgeflechten noch dürftig, allzu dürftig. Der vorliegende Band kann dieses gewaltige Defizit natürlich nicht beheben, wohl aber ein wenig lindern. Er deutet eindrücklich an, dass das neuzeitliche Europa nicht an der habsburgisch-venezianischen Grenze mit dem Osmanischen Reich endet, aber auch nicht am Bosporus.

Karl Kaser, Graz

Zitierweise: Karl Kaser über: Andreas Helmedach / Markus Koller / Konrad Petrovszky / Stefan Rohdewald (Hg.): Das osmanische Europa. Methoden und Perspektiven der Frühneuzeitforschung zu Südosteuropa. Leipzig: Eudora, 2014. 506 S., Graph., Tab. ISBN: 978-3-938533-30-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Kaser_Helmedach_Das_osmanische_Europa.html (Datum des Seitenbesuchs)

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