Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Konstantin Kaminskij

 

Georgij Andreevskij: Povsednevnaja žizn’ Moskvy v stalinskuju ėpochu. 1920 1930-e gody. [Das Alltagsleben im Moskau in der Stalinzeit. 1920er und 1930er Jahre]. Moskva: Molodaja Gvardija, 2008. 557 S., Abb. = Živaja istorija: Povse­dnevnaja žizn’ čelovečestva. ISBN: 978-5-235-03123-4.        

Der populärwissenschaftliche Traditionsverlag „Molodaja Gvardija“ publizierte 2008 die besprochene Monographie „Povsednevnaja žizn’ Moskvy v stalinskuju ėpochu. 1920-1930-e gody“  bereits in ihrer 2. Auflage zusammen mit dem Folgeband vom selben Autor, der das Alltagsleben Moskaus in den 1930er und 1940er Jahren beschreibt. (Die erste Auflage beider Bücher war 2003 veröffentlicht worden.) 2009 erschien ein weiterer Band über das Alltagsleben in Moskau von Georgij Andreevskij, in dem die Jahrhundertwende behandelt wird. Die Moskau-Reihe Andreevskijs erfreut sich großer Popularität. Auf zahlreichen Internetseiten, auf denen man die Bücher auch kostenlos herunterladen kann, findet man begeisterte Leserbewertungen.

Im Vorwort des zur Rezension vorliegenden Bandes über das Alltagsleben in Moskau in den zwanziger und dreißiger Jahren betont der Autor, dass er bei seiner Darstellung keinem vorgeprägten systematischen Leitfaden folge, sondern dass sich die Kapitel mehr oder weniger von selbst aus dem Material ergeben hätten. Diese unsystematische Herangehensweise des Autors sowie das Fehlen bibliographischer Angaben hat zur Konsequenz, dass das Buch für Forschungszwecke kaum zu gebrauchen ist. Ein halbes Dutzend Moskau-Romane aus den 20er Jahren, ein halbes Dutzend Memoiren und einige Zeitungen und Zeitschriften der 20er und 30er Jahre, allem voran die Moskauer Abendzeitung (Večernjaja Moskva) sowie (laut Angabe des Autors) mündlich überlieferte Erinnerungen von Moskauern bilden für das Buch das Material, das größtenteils in nostalgischer, monotoner Manier einfach nacherzählt wird, wobei die Quellen weder chronologisch noch generisch geordnet werden.

Markant ist die stellenweise ausufernde Kriminalchronik. Andreevskij war der Kurzbiographie des Verlags zufolge vor seiner Pensionierung 1995 bei der Moskauer Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft tätig. Dieser Hintergrund wird bei der Lektüre des Buches, das knapp zu einem Drittel der Beschreibung der Verbrecherwelt, des Polizeialltags, der Staatsanwaltschaft und der Strafvollzugsanstalten gewidmet ist, deutlich spürbar. Auch die übrigen Kapitel des Bandes, die zum Beispiel Hobbyerfinder, Moskauer Bierhallen, Gemeinschaftswohnungen oder frühsozialistische Moralvorstellungen zum Gegenstand haben, werden ausgiebig anhand von kuriosen Gerichtsverfahren illustriert. Mit diesen durchaus spannenden Beobachtungen beweist der Autor eine gewisse Materialkompetenz, und detaillierte Nachweise wären hier besonders wünschenswert.

An diversen Stellen des Bandes tauchen auch Passagen mit Erinnerungen Andreevskijs an das Moskau der Nachkriegszeit, der 70er oder 80er Jahre auf. So evoziert die Beschreibung der Moskauer Geschäfte und Märkte der 20er Jahre beim Autor eine zärtliche, nostalgische Erinnerung an den Trödelmarkt der 90er Jahre (S. 35). Diese Passage lässt sich meiner Meinung nach gut als Autokommentar eines Buches lesen, das in seiner Gesamtheit am ehesten einem historisch-literarischen Flohmarkt ähnelt, wo man bei aufmerksamer Lektüre zwischen wertlosem ‚Krempel‘ hin und wieder interessante Kleinodien in Form aufschlussreicher Rechtsfälle finden kann – gesetzt, man weiß, wonach man suchen muss, und man kann sich für einen solchen Zeitvertreib erwärmen.

An anderen Stellen tritt der Autor aus seinem monotonen Erzählfluss mit nationalistischen und ‚gemäßigt‘ antisemitischen Obertönen hervor. Beispielsweise schreibt Andreevskij, Moskau und andere russische Großstädte seien nach der Revolution „zu Zufluchtsort und Beute der Juden“ (S. 533) geworden, und leitet daraus ab, dass Staatsbeamte keinesfalls aus nationalen Minderheiten und insbesondere Juden rekrutiert werden dürften (S. 537, 541). Alles weist darauf hin, dass diese Aussagen gleichsam die zentrale Message des Buches bilden: Eine Begründung des Nationalismus als natürlicher Selbsterhaltungstrieb der Staatsnation unter den Bedingungen des freien Konkurrenzmarktes (S. 542) bis hin zur verhaltenen Rechtfertigung des Antisemitismus als identitätsstiftender Konstante der russischen Kultur klingen hier an (S. 534; 543).

Diese im Schlussteil des Buches ostentativ auftretenden, schwer erträglichen Äußerungen machen die ohnehin zähe und relativ unergiebige Lektüre zu einem unersprießlichen Unterfangen, zumal die relevanten Themenbereiche des Bandes, wie die Beschreibung der Neuen Ökonomischen Politik, des Rechtswesens, des Unterhaltungsbetriebs und der sanitären Einrichtungen im Moskau der zwanziger und dreißiger Jahre in einer Reihe detaillierter sozial- und geisteswissenschaftlicher Untersuchungen der letzten Jahre eingehend beleuchtet wurden.

Konstantin Kaminskij, Konstanz

Zitierweise: Konstantin Kaminskij über: Georgij Andreevskij: Povsednevnaja žizn’ Moskvy v stalinskuju ėpochu. 1920 – 1930-e gody. [Das Alltagsleben im Moskau in der Stalinzeit. 1920er und 1930er Jahre]. Moskva: Molodaja Gvardija, 2008. 557 S., Abb. = Živaja istorija: Povse­dnevnaja žizn’ čelovečestva. ISBN: 978-5-235-03123-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Kaminskij_Andreevskij_Povsednevnaja_zizn.html (Datum des Seitenbesuchs)

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