Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Kristina Kaiserová

 

Vergessene Vielfalt. Territorialität und Internationalisierung in Ostmitteleuropa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Hrsg. von Steffi Marung / Katja Naumann. Göt­tingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2014. 256 S., 2 Abb. = Transnationale Geschichte, 2. ISBN: 978-3-525-30166-1.

Inhaltsverzeichnis:

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Das Leitmotiv aller Beiträge des Bandes Vergessene Vielfalt … ist, dass die Forschungen zur transnationalen Geschichte sich zumeist auf die transatlantische Welt konzentrieren und dabei Ost- und Ostmitteleuropa aus dem Blick verloren geht. Dabei bin ich mir nicht sicher, dass das so stimmt. Trotzdem ist es erfreulich, dass die Autoren das Thema angehen. Als symbolischen Knotenpunkt sehen die Herausgeber die Pariser Weltausstellung 1900, „welche für sie emblematisch für die massiven Umbrüche in Ostmitteleuropa im Übergang zum 20. Jahrhundert steht …“ (hier eine kleine Korrektur: Es ist nicht richtig, dass im Rahmen der Habsburgischen Monarchie keine Repräsentanten aus Böhmen dabei waren – der Verleger Otto erwarb sogar ein Goldmedaille – S. 10). Von hier aus nimmt der Versuch den „Autorinnen und Autoren die Vielfalt ostmitteuropäischer Raumordnungsprojekte empirisch und konzeptionell zu erfassen …“ seinen Ausgang. – Das Thema entstand im Rahmen der Projektgruppe Ostmitteleuropa transnational am GWZO Leipzig.

Außer der umfangreichen Einleitung besteht das Buch aus zwei Teilen. Der erste handelt von Territorialisierungsprojekten in Ostmitteleuropa. Die Beiträge im zweiten Teil untersuchen Formen der ostmitteleuropäischen Integration in frühen internationalen Organisationen. Die Einleitung dient außer der Präsentation des Projektes auch einer zusammenfassenden Charakterisierung des erforschten Zeitabschnittes.

Der erste Teil des Bandes beginnt mit dem Beitrag von Ulrike Jureit: Ordnungen des politischen Raumes im Kaiserreich: Territorium, Raumschwund und Leerer Raum. Die Konzeption erscheint legitim, und es ist interessant, wie sich das Deutsche Reich im Zuge des imperialen Wettbewerbs um die koloniale Landnahme in Afrika auch der Fiktion des „leeren Raumes“ bediente. Aber im Rahmen des Gesamtthemas wäre es interessant gewesen, die polnischen Gebiete Preußens einzuschließen.

Jörn Happel untersucht Transformationen und Krisen des imperialen Modells des russländischen Reichs. Es wird gut dargestellt, wie einerseits Russlands Raum im Selbstverständnis des Imperiums von Polen bis in den Fernen Osten, den Kaukasus usw. reichte, und gleichzeitig Russland im 19. Jahrhundert weiterhin Krisen im Kernland sowie an den Peripherien (Kaukasus, Polen) überwinden musste, die teilweise in der früheren Geschichte begründet lagen.

Frank Hadler beschäftigt sich mit dem Thema Neoslawismus im Zusammenhang zwischen dem Zaren- und Habsburgerreich: Vernetzungsimpulse aus Fernost – oder wie der 1908 in Prag zelebrierte Neoslawismus mit Russlands verlorenem Krieg gegen Japan zusammenhing. Der Neoslawismus war eine Modifikation des Panslawismus. Man deklarierte keine „breitere Heimat unter Russlands Führung“, sondern eine slawische Kooperation außerhalb der Politik auf dem Feld von Kultur und Bildung. Dies war selbstverständlich illusionär, wie sich das besonders im Zusammenhang mit den Aktivitäten von Karel Kramář zeigte, einer der führenden Persönlichkeit der Bewegung. Die Bewegung war nicht besonders lebensfähig, aber im Zusammenhang mit den aufgeputschten Nationalismen und Russlands imperialen Interessen nicht ohne Wirkung. Hadlers Beitrag ist eine gute einführende Studie in den Europa und Asien umspannenden Zusammenhang.

Anna Veronika Wendland (Ost mitteleuropäische Städte als Arenen der Verhandlung nationaler, imperialer und lokaler Projekte) zeigt einen weiteren Aspekt des Wandels der Territorialisierungsregime, die Städte und ihre Vernetzungen. Der Text hat eine stark kultur- und sozialanthropologische Prägung mit einigen konkreten Beispielen (Lemberg, Wilna, Breslau etc.). Es handelt sich um eine interessante Einleitung für weitere empirisch ausgerichtete Forschung.

Der erste Beitrag des zweiten Teiles ist von Helena Tóth: Biographien, Netzwerke und Narrative: Transnationale Aspekte des politischen Exils nach 1848. Sie warnt mit Recht davor, die Geschehnisse des Jahres 1848 zu überschätzen, jedoch handelte es sich um einen wichtigen Wendepunkt, der eine der großen Migrationswellen des 19. Jahrhundert verursachte. Die Autorin zeichnet das Bild des ungarischen Exils, das Ausmaß und die Grenzen der Wirksamkeit transnationaler Netzwerke und Verbindungen vor dem Hintergrund intellektueller Reflexionen (Auguste de Gerando, Francis Bowmen, Emma Teleki, Károly Krajtsir) als Folge der Revolutionen von 1848. Das steht im Kontext des Gesamtporträts über die Denkweise nicht nur des ungarischen Exil und nicht nur der Zeit des 19. Jahrhundert. Es geht um den Glauben an die Wiederauferstehung einer globalen revolutionären Utopie, der zwar nicht ohne politisches Taktieren auskam, doch letztlich vor allem ein evergreen auch für das nächste Jahrhundert wurde.

Die letzten drei Beiträge (Dietlind Hüchtker: Transnationale Netzwerke und lokale Verankerungen. Historisierungsnarrative der Frauenbewegungen am Beispiel von Galizien; Adrian Zand­berg: „Preparing the new world“. Polish Prohibitionists and the early International Temperance Movement; Nikolai Kamenov: Globale Ursprünge und lokale Zielsetzungen: die Anti-Alkoholbewegung in Bulgarien 1890–1940) behandeln Themen, die spezifische lokale Ursprünge hatten und sich schnell international vernetzten. Die Protagonistinnen und Protagonisten waren meistens in einer breiten Ideenwelt zu Hause und es ist eine spannende Geschichte, wie sich die Fäden des Gedankentransfers zusammenfanden.

‚Schlusswort‘ des Bandes ist ein Gespräch über das Verhältnis von national(staatlichen) und transnationalen Bewegungen bzw. internationalen Organisationen (Susan Zim­mer­mann, Matthias Middell, Marcel von der Linden).

Die Beiträge des Sammelbandes stellen viele anregende Einzelthemen vor, die das Ziel eine gleichzeitigen Territorialität und Internationalisierung miteinander verbinden.

Kristina Kaiserová, Ústí nad Labem

Zitierweise: Kristina Kaiserová über: Vergessene Vielfalt. Territorialität und Internationalisierung in Ostmitteleuropa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Hrsg. von Steffi Marung / Katja Naumann. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2014. 256 S., 2 Abb. = Transnationale Geschichte, 2. ISBN: 978-3-525-30166-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Kaiserova_Marung_Vergessene_Vielfalt.html (Datum des Seitenbesuchs)

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