Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Kristina Kaiserová

 

Robert Luft / Miloš Havelka / Stefan Zwicker (Hrsg.): Zivilgesellschaft und Men­schenrechte im östlichen Mitteleuropa. Tschechische Konzepte der Bürgergesellschaft im historischen und nationalen Vergleich. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2014. XIV, 434 S. = Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 109. ISBN: 978-3-525-37306-4.

Inhaltsverzeichnis:

http://www.v-r.de/de/zivilgesellschaft_und_menschenrechte_im_oestlichen_mitteleuropa/t-0/1011531/

 

Das vorliegende Werk ist ein Sammelband, der aus einem Forschungsprojekt am Münchener Collegium Carolinum (2003 bis 2005) erwachsen ist und Projektstudien sowie die Beiträge zweier Tagungen in Prag (Februar 2005) und Bad Wiessee (April 2005) enthält.

Das Verhältnis von Gesellschaft und Staat wird schon seit der Aufklärung diskutiert. Ziel des Bandes, ein Ergebnis des Projekts Tschechische zivilgesellschaftliche Konzepte, ist es, komparative Untersuchungsergebnisse zu „Grundbegriffen des politischen Denkens“ herauszuarbeiten. Die Herausgeber machen dabei deutlich, dass nicht nur neuere Debatten und Konzeptionen zum Themenfeld Zivil- und Bürgergesellschaft im östlichen Europa vorgestellt, sondern auch auf „ältere Diskurse zu Menschen- und Bürgerrechten in den böhmischen Ländern, wie auch in benachbarten Regionen aufmerksam  gemacht werden soll. So kommen hier mehrere weitgehend unbekannte Denker zu Worte. Eine ganze Reihe tschechischer zivilgesellschaftlicher Schlüsseltexte aus den Jahren von 1848 bis 1980 wurde erstmals ins Deutsche übertragen und im Quellenteil des Bandes wiedergegeben.“ In der Einführung werden dann die einzelnen Begriffe im historischen Kontext definiert.

Der erste Abschnitt des Buches ist den zivilgesellschaftlichen Konzepten vor und nach 1989 gewidmet. Der methodologisch einführende Text (Zivilgesellschaft und Staat im aktuellen Diskurs) von Karel B. Müller, der sich schon lange im Rahmen der politischen Soziologie auch mit der Zivilgesellschaft beschäftigt, versucht hier, in übersichtlicher Form die Beziehungen zwischen Zivilgesellschaft und demokratischem Staat in ihrer Komplexität darzulegen. An ihn knüpft Miloš Havelka mit dem Thema nichtpolitische Politik vor und nach 1989, an. Der Begriff „nichtpolitische Politik“ wurde im Laufe der Zeit in der Tschechischen Republik ein Klischee. Miloš Havelka versucht, das ganze Konzept der „nichtpolitischen Politik“ neu zu interpretieren und in einen Kontext moderner tschechischer Geschichte zu integrieren. In diesem Zusammenhang durfte auch die Inspiration Václav Havels durch den Philosophen Jan Patočka nicht vergessen werden. Václav Žák (Der Streit um die Zivilgesellschaft) verleugnet seine politisch-publizistische Prägung nicht. Der Kern seines Beitrages sind aktuelle Reflexionen. Auch die Wissenschaft hat eine soziale Rolle in der Gesellschaft, wie Karel Müller zeigt (Wissenschaft zwischen Staat und Zivilgesellschaft).

Weitere Beiträge des Abschnittes beziehen sich auf konkrete Ereignisse und Persönlichkeiten. Vilém Prečan (Die Wiederentstehung der Bürgergesellschaft) befasst sich zuerst allgemein mit der Bürgergesellschaft in ihrer Beziehung zum kommunistischen Totalitarismus. Detailliert verfolgt er die bürgerliche Emanzipation („moralische Revolution“ in den Worten des Autors) der 70er und 80er Jahre in der Tschechoslowakei, der er selbst aus dem Exil behilflich war. Die demokratische Revolution von 1989 sieht er als „unerwartete Gabe der Geschichte“. Die gleichzeitige Rolle des „Zeitzeugen“ ist im Text deutlich spürbar. Eine bedeutende Persönlichkeit des slowakischen Dissenses war Milan Šimečka. Sein Demokratiekonzept beschreibt der Literarhistoriker und Politiker Peter Zajac. Mit den  Dilemmata der Zivilgesellschaft in der aktuellen demokratischen Gesellschaft befasst sich Radim Marada (Civil Society Representing and Represented. Civic Ethos versus Organizational Identity). Marek Skovajsa (Zu einigen Konflikten in der Kultur der Postkommunistischen Bürgergesellschaft. Am Beispiel der Tschechischen Republik) versucht aus einer etwas anderen Sicht als Marada die Konflikte in der tschechischen Bürgergesellschaft zu beschreiben. Er betont aber, dass es sich nicht um Konflikte handle, die unüberwindbare Hindernisse für die weitere dynamische Entwicklung der tschechischen Bürgergesellschaft darstellten. Eine wichtige komparative Studie zur tschechischen (tschechoslowakischen) Entwicklung der Bürgergesellschaft präsentiert Stefan Garsztecki (Politische und Zivilgesellschaftliche Theorien und Konzepte im polnischen Dissens unter dem Kommunismus und seine Fortführung nach 1989) am Beispiel Polens. Beide Autoren stellen eine schwache Konstitution der beiden Bürgergesellschaften fest. Jan Sokol sieht als einen der Schwerpunkte seines kurzes Beitrages („Bürger“ und „Občan“. Zu Eigenheiten der tschechischen Zivilgesellschaft), „sichtbare Parallelen und Ähnlichkeiten bei der tschechischen Variante der Zivilgesellschaft und den Gesellschaften der Nachbarländer darzulegen …“ an. Es handelt sich aber eher um einen kurzgefassten Überblick der Entwicklung der nationalen Bürgergesellschaft seit dem 19. Jahrhundert. Mit dem Artikel Darwin oder Kant? Anmerkungen zum Thema Sozialdarwinismus und Menschenrechte vom Bedřich Loewenstein endet der erste Teil des Bandes. Auf einen allgemeinen Einblick ins die Problematik folgt ein interessanter Exkurs zu einigen Reflexionen des „Biologismus“ im tschechischen Denken vor dem Ersten Weltkrieg.

Der zweite Abschnitt ist den „historischen Wurzeln“ des aktuellen Themas gewidmet Karel Malý befasst sich mit der Situation der Bürgerrechte in der Habsburgermonarchie (Die allgemeinen Rechte der Staatsbürger in Österreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts). Man kann nicht voraussetzen, dass es sich in der Habsburgermonarchie (nicht nur dort im 19. Jahrhundert!) um eine moderne Fassung der Bürgerrechte handelte; die Staatsinteressen hatten grundsätzlich Vorrang. Stefan Zwicker untersucht in seinen folgenden zwei Beiträgen (Zivilgesellschaftliche Elemente und Programmatik in der politischen Publizistik Karel Havlíček Borovskýs und Zivilgesellschaftliche Elemente in der tschechischen Publizistik und der Programmatik nationaler tschechischer Parteien von 1860 bis 1890) konkrete Elemente des zivilgesellschaftlichen Denkens der tschechischen Gesellschaft. Robert Luft (Zivilgesellschaftliche Praxis in den böhmischen Ländern des 19. Jahrhunderts) verfolgt die Entfaltung der Elemente einer Zivilgesellschaft in der Habsburgermonarchie bis 1914. Trotz ihrer Schwäche könne man nach den Reformen von 1867 in den böhmischen Ländern von der Entstehung einer vielgestaltigen Zivilgesellschaft sprechen.

Der dritte Teil des Bandes stellt, wie schon oben erwähnt, Schlüsseltexte von tschechischen Theoretikern vor, beispielsweise von Václav Benda, Karel Čapek, Václav Černý, Karel Havlíček Borovský, Emanuel Mandler, Tomáš G. Masaryk, Jiří Němec, Jan Patoka, Ferdinand Peroutka, Emanuel Rádl und Ludvík Vaculík.

Der Band bietet ein breites Kompendium von Texten von reiner Theorie über historische Analysen zwischen dem 19. Jahrhundert und der Gegenwart bis zu rein subjektiven Reflexionen. Oft handelt es sich um überarbeitete und ins Deutsche übersetzte ältere Beiträge. Das Ziel, einen zusammenfassenden Überblick über die Thematik darzustellen, wird erreicht. Vielleicht wäre es aber gut gewesen, noch mehr Historiker zu beteiligen, darunter nicht nur Experten für das 19. Jahrhundert (hier ist noch einmal der inspirierende Beitrag von Robert Luft zu erwähnen), sondern auch für die nachfolgenden Zeitabschnitte. Zum Schluss sei auch noch an den Verfasser des exzellenten Buches Die tschechische Gesellschaft 1848–1914 (I–II, Wien 1994), Otto Urban, erinnert.

Kristina Kaiserová, Ústí nad Labem

Zitierweise: Kristina Kaiserová über: Robert Luft / Miloš Havelka / Stefan Zwicker (Hrsg.): Zivilgesellschaft und Menschenrechte im östlichen Mitteleuropa. Tschechische Konzepte der Bürgergesellschaft im historischen und nationalen Vergleich. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2014. XIV, 434 S. = Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 109. ISBN: 978-3-525-37306-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Kaiserova_Luft_Zivilgesellschaft_und_Meschenrechte_oestliches_Europa.html (Datum des Seitenbesuchs)

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