Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Kristina Kaiserová, Ústí nad Labem

 

Detlef Brandes: „Umvolkung, Umsiedlung, rassische Bestandsaufnahme“. NS-„Volkstumspolitik“ in den böhmischen Ländern. München: Oldenbourg, 2012, 309 S., 8 Abb., 14 Tab. = Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 125. ISBN: 978-3-486-71242-1.

Detlef Brandes ist bekannt durch eine Vielzahl von Publikationen, die sich den letzten Jahren der ersten Tschechoslowakischen Republik und besonders dem Protektorat widmen. Es war kaum zu erwarten, dass noch eine Monographie zu diesem Thema von ihm entstehen könnte. Wie bei Brandes üblich, stützt sich auch dieses Buch über die NS-„Volkstumspolitik“ in den böhmischen Ländern auf ein breites Spektrum von Quellen, aus tschechischen Archiven und dem Bundesarchiv in Berlin, und es ist mit einem ausführlichen Literaturverzeichnis ausgestattet. Die „Volkstumspolitik“ des Nationalsozialismus spielte wie in den anderen Ostgebieten so auch im Protektorat Böhmen und Mähren und im Reichsgau Sudetenland eine wichtige Rolle. Daraus ergab sich Brandes erste Frage: wie und warum unterschied sich diese Politik im Fall der Tschechen von der Politik gegenüber anderen Völkern Osteuropas, vor allem den Polen. Hier ist ziemlich schnell zu sehen, dass Brandes sich die Antwort nicht einfach gemacht hat.

Faszinierend ist schon das erste Kapitel, das die Ziele und Grundsatzentscheidungen dieser Politik analysiert. Schritt für Schritt verfolgt er die oft konfliktreichen Stufen des Prozesses der deutschen „Tschechenpolitik“. Politische Ziele, wirtschaftliche Interessen, rassenpolitische Visionen griffen nicht immer ineinander. In diesem Zusammenhang wird besonders die Entwicklung des einflussreichen Aktivisten der Sudetendeutschen Partei Karl Hermann Frank anschaulich dargestellt. Im Verlauf seiner politischen Karriere im Protektorat, in der Doppelspitze mit Neurath, setzte Frank, obgleich ein „Radikaler“ nach dem Attentat an Heydrich, dennoch eine relative Realpolitik durch.

Im zweiten Kapitel seines Werkes behandelt Brandes die „Bereiche und Methoden der NS-Volkstumspolitik“. Dies erwies sich in einigen Bereichen als schwierige Aufgabe für die Machthaber. Erstens mangelte es an so genannten Volksdeutschen und Deutschstämmigen, um den neu gewonnenen Raum zu besiedeln. Mischehen, die besonders unter den „Streudeutschen“ vorkamen, entschieden sich nicht immer eindeutig dafür, als ganze Familien „reichsdeutsch“ zu werden.

Einer der Schlüsselbereiche dieser Politik war, wie schon seit dem 19. Jahrhundert üblich, das Schulwesen. Das nationalsozialistische Programm arbeitete aber mit ganz anderen Methoden. Außer der Schließung der Hochschulen im Jahre 1939 und der folgenden Beschränkung des gesamten tschechischen Schulwesens (noch härtere Maßnahmen im Schulwesen so wie auch im gesamten Kulturbereich wurden im Reichsgau Sudetenland umgesetzt) stellte man das Schulsystem unter den Einfluss der nationalsozialistischen „Ideenwelt“ – dazu diente z.B. unter Heydrich ein spezielles Fach für tschechische Lehrer, das so genannte Gesinnungsfach. Auch die Eindeutschung der Verwaltung und der Wirtschaft stand im Vorfeld der reichsdeutschen Interessen und wurde rasch durchgeführt.

Einen zentralen Raum in der Germanisierung der böhmischen Länder nahm die Boden- und Siedlungspolitik ein. Bei der Umsiedlungspolitik gab es unterschiedliche Vorstellungen im Reichsgau Sudetenland und im Protektorat. Das Interesse der Behörden im Reichsgau war darauf ausgerichtet, die tschechische Minderheit nach Möglichkeit auszusiedeln. Dagegen fürchtete man im Protektorat (hier nicht nur Konrad von Neurath, sondern auch Karl Hermann Frank mit Reinhard Heydrich) die unzufriedenen und entwurzelten Menschen. Dieser Meinung waren zuletzt auch die Berliner Behörden.

Die Bodenpolitik umfasste eine breite und komplizierte Skala von Aktivitäten und Zielen. Konfisziert wurde das jüdische und nach Bedarf auch das tschechische Bodeneigentum. Staatliche Domänen und Wälder kamen danach an die Reihe, es folgte die Zwangsverwaltung des kirchlichen Bodens und der Ländereien der tschechischen Adeligen, die dem Tschechoslowakischen Staat im September 1938 den Eid der Treue geleistet hatten. Weitere Vorstellungen betrafen die „Bereinigung der deutschen Sprachinseln“ – durch die Ansiedlung von „Volksdeutschen“ aus Südosteuropa und Südtirol sollte der tschechische Siedlungsraum zersplittert werden. Eine bedeutende Rolle spielte in diesem Zusammenhang die Anlegung von Truppenübungsplätzen, die nach dem Krieg von deutschen Ansiedlern bewirtschaftet werden sollten.

Im dritten Teil des Buches befasst sich der Autor mit der Rassenpolitik. Trotz klar formulierten Voraussetzungen rechnete man mit der Bereitschaft der Tschechen zur Assimilation nach dem Endsieg; „rassisch unverdauliche Tschechen“ sollten „nach Osten“ ausgesiedelt, „reichsfeindliche Intelligenz“ entweder „eingedeutscht“ oder der „Sonderbehandlung“ unterzogen werden; für die Juden und Roma war nur Deportation und Ermordung vorgesehen. Eine rein rassistische Bestandsaufnahme der tschechischen Bevölkerung setzte Reinhard Heydrich durch. Diese wurde ab Februar 1943 durch eine Außenstelle des Rasse- und Siedlungshauptamtes in Prag systematisch durchgeführt. Sie war zwar schon 1941 in Prag errichtet worden, aber zur „systematischen Arbeit“ kam sie wahrscheinlich erst nach Heydrichs Tod.

Lesenswert ist das letzte Unterkapitel „Späte Einsichten“ über die Bemühungen der Prager obersten Rassenexperten in ihren Denkschriften im Frühjahr 1945, einen möglichst „nicht-rassistischen“ Ausweg für die zukünftige „Europapolitik“ zu finden.

Den Band begleitet zum Schluss eine ausführliche Zusammenfassung in Deutsch und Tschechisch sowie ein Sach-, Orts- und Personenregister.

Das Buch von Detlef Brandes ist ein Beispiel einer „erfolgreichen Ernte“ langjähriger Forschung zu unterschiedlichen, aber miteinander verbundenen Aspekten der Thematik, die Brandes mit gezielter Quellenforschung (besser Restquellenforschung) und umfangreichen Literaturkenntnissen präsentiert. Die komplizierte NS-“Volkstumspolitik“ in den böhmischen Ländern wird gründlich und sachlich in allen Bereichen geprüft. Wichtig ist auch die Klärung der unterschiedlichen Verhältnisse im Reichsgau Sudetenland und im Protektorat Böhmen und Mähren. Diese komplizierten Verhältnisse und Interessen liefern dann auch die Antwort auf die einleitende Frage von Detlef Brandes, warum sich die Politik gegenüber den Tschechen von der Politik gegenüber anderen Völkern Osteuropas (vor allem den Polen) unterschied.

Kristina Kaiserová, Ústí nad Labem

Zitierweise: Kristina Kaiserová, Ústí nad Labem über: Detlef Brandes: „Umvolkung, Umsiedlung, rassische Bestandsaufnahme“. NS-„Volkstumspolitik“ in den böhmischen Ländern. München: Oldenbourg, 2012, 309 S., 8 Abb., 14 Tab. = Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 125. ISBN: 978-3-486-71242-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Kaiserova_Brandes_Umvolkung_Umsiedlung.html (Datum des Seitenbesuchs)

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