Jahrbücher für Geschichte Osteuropas: jgo.e-reviews 3 (2013), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Peter Kaiser

 

Ol’ga Ju. Nikonova: Vospitanie patriotov. Osoaviachim i voennaja podgotovka naselenija v ural’skoj provincii (1927–1941 gg.). Moskva: Novyj Chronograf, 2010. 471 S., Abb. ISBN: 978-5-94881-138-3.

Patriotismus und Nationalismus sind oft zwei Seiten einer Medaille, allerdings sind die Emotionen, die mit jeweiliger Bezeichnung in Verbindung gebracht werden, sehr unterschiedlich. Während Patriotismus ein durchaus positiv konnotierter Begriff ist, der auch in den modernen demokratischen Gesellschaften eine wichtige Rolle als Integrationsfaktor spielt, dient der Begriff des Nationalismus als eine Negativschablone auf die Übel, die ein übersteigertes Wertgefühl gegenüber anderen Völkern erzeugen kann. Spätestens seit den Gräueltaten, die im 20. Jahrhundert im Namen des Nationalismus verübt worden sind, gilt er als eine Verirrung des menschlichen Geistes, die nichts außer Tod und Verderben bringen kann.

Das war jedoch nicht immer so. Im 19. Jahrhundert war der Begriff des Nationalismus ein positiv besetztes Schlagwort; er wurde zur Verkörperung der Idee der Volkssouveränität, mithin zum unverzichtbaren Attribut des modernen Nationalstaates und galt dementsprechend als ein positiver Indikator kollektiver Identitätsstiftung. Gleichzeitig stellte der Nationalismus die multiethnischen Staaten vor ein schier unlösbares Problem: Die Bevorzugung einer Entität, die Erklärung einer bestimmten ethnischen Gruppe zum Träger der Volkssouveränität, führte automatisch zur Benachteiligung aller anderen. Vor allem die Kontinentalimperien wie Österreich-Ungarn, das Osmanische Reich und das zarische Russland standen am Anfang des 20. Jahrhunderts vor dem Dilemma, die Bildung eines „modernen“ Nationalstaates zu bewerkstelligen und gleichzeitig die Einheit des Vielvölkerreiches nicht zu gefährden. Während Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich am Ende des Ersten Weltkrieges auseinanderfielen, gelang es Russland sein Staatsgebiet, mit Ausnahme Polens, des Baltikums und Finnlands, zusammenzuhalten. Und diese Entwicklung war ausgerechnet das Ergebnis der Politik der Bolševiki, einer Gruppe von Revolutionären, die eigentlich den Internationalismus auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Innerhalb weniger Jahre erarbeiteten die neuen Machthaber eine eigene Ideologie, die den Zusammenhalt des Landes garantieren sollte: Der Sowjetpatriotismus war geboren.

Gerade diesem Prozess ist die Monographie von Ol’ga Nikonova gewidmet, die im Rahmen des Sonderforschungsbereichs 437 „Kriegserfahrungen, Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit“ an der Universität Tübingen entstand und 2010 in Moskau erschien. Unter Patriotismus versteht die Autorin einen Diskurs, der vor dem Hintergrund des Problems der Beziehungen zwischen dem Subjekt und seinem „Wohnort“ entsteht, ein dynamisches Narrativ, an dessen Ausarbeitung sowohl der Staat als auch das Subjekt aktiv teilnehmen. Unter Berufung auf den deutschen Soziologen Peter Fuchs sieht Nikonova im Patriotismus eine kommunikative Praxis, deren Endergebnis die Schöpfung einer imaginierten solidarischen Gesellschaft sein soll. Auch in der So­wjet­union der 1930er Jahre sei die Erziehung zum Patrioten ein dynamischer Prozess gewesen, dessen Inhalt nicht starr war, sondern von den historischen Subjekten ausgehandelt wurde. Für viele war jedoch die Beteiligung am patriotischen Ritus wichtiger als dessen Inhalt, denn erst dadurch entstand das Gefühl, Teil eines großen Ganzen zu sein. Die Verinnerlichung des Sowjetpatriotismus stellt für die Autorin eine Ausprägung der Problematik der stalinschen „Subjektivität“ da; der Einzelne sei kein bloßer Rezipient des offiziellen Diskurses gewesen, sondern er spielte eine schöpferische Rolle, indem er sein eigenes „Ich“ aktiv verändert habe (S. 37). Diese Veränderung des „Ich“, die Verinnerlichung des geltenden semantischen Raumes, ging mit der Annahme eines bestimmten Habitus, mit der Disziplinierung des Subjekts und der Entstehung des Neuen Menschen einher. Um die dem Regime positiv erscheinenden sozialen Massenpraktiken zu verfestigen, wurden sie institutionalisiert, wobei die paramilitärische Organisation „Osoaviachim“ (Die Gesellschaft zur Förderung der Verteidigung, des Flugwesens und der Chemie) eine wichtige Rolle spielte.

Eines der Verdienste der vorliegenden Arbeit liegt gerade darin, dass die Untersuchung von Mobilisierungspraktiken des sowjetischen Regimes am Beispiel einer fast in Vergessenheit geratenen Institution wie der „Osoaviachim“ vorgenommen wird. Die Autorin schildert nicht nur die Strukturen der „Osoaviachim“, die von ihr als „quasigesellschaftliche Organisation“ bezeichnet wird, sondern stellt eine direkte Verbindung her zwischen der Entstehung dieser Institution, der Veränderung des Inhalts der patriotischen Erziehung breiter Volksmassen und der massiven Bellifizierung (voenizacija) der sowjetischen Gesellschaft in den 1930er Jahren vor dem Hintergrund der Angst vor einem Angriff der „Imperialisten“ und gleichzeitig der Popularität von paramilitärischen Aktivitäten, die nicht nur Jungen, sondern im Zuge der Emanzipationspolitik auch immer mehr Mädchen ergriff. Auch die tiefste sowjetische Provinz wie das im Mittelpunkt der Monographie stehende Ural-Gebiet wurde von der Angst vor dem kommenden Krieg ergriffen, denn die moderne Kriegstechnik, und davon war man zutiefst überzeugt, erlaube es nicht mehr, zwischen Frontgebieten und dem Hinterland zu unterscheiden. Für die sowjetischen Militärtheoretiker war das ganze Land ein einziges Schlachtfeld des künftigen Krieges.

Die Autorin verweist zwar zurecht darauf, dass die Mobilisierungspraktiken, vor allem in der Provinz, das Niveau bloßer Losungen nicht überstiegen und dass die Mehrheit der Osoaviachim-Mitglieder in militärisch-taktischer Hinsicht nur äußerst unzureichend ausgebildet wurde; sie versucht allerdings gerade in der kommunikativen Praxis dieser Institution den patriotischen Diskurs zu finden. Diesen Widerspruch, den die Autorin durchaus wahrnimmt (S. 48), vermag sie nicht zu lösen, denn ihr Verweis auf die „Routine“, mit der patriotische Praktiken von den Mitarbeitern der „Osoaviachim“ „von Berufs wegen“ ausgeübt wurden, verbunden mit dem Wunsch, dort „Dokumente zu finden“, die es erlauben würden, die Besonderheiten des patriotischen Diskurses und des patriotischen Habitus zu rekonstruieren (S. 48), verleiten sie dazu, die Tendenz der Organisation außer Acht zu lassen, ihre eigene Existenz durch übertriebene oder nicht vorhandene Erfolgsmeldungen zu rechtfertigen.

Damit korrespondiert eine gewisse terminologische Unschärfe. So unterlässt es die Autorin bedauerlicherweise, genau zu definieren, was sie unter einem Diskurs versteht und worin sie den Unterschied zu einer Diskussion sieht. Man gewinnt unwillkürlich den Eindruck, dass auch dort, wo eine Diskussion gemeint ist, der Begriff des Diskurses verwendet wird. Das gleiche Problem betrifft die Begriffe „Stalinismus“ und „stalinistisch“. Was soll man unter einem „stalinistischen Diskurs“ verstehen? Was unterscheidet das „stalinistische patriotische Pathos“ vom „sowjetischen patriotischen Pathos“? Waren das synonyme Bezeichnungen des gleichen Phänomens? Und was sind „stalinistische Praktiken“?

Nichtsdestoweniger muss man der Autorin große Anerkennung aussprechen. Ihr ist es gelungen, eine interessante Darstellung des für das Verständnis des Funktionierens des stalinschen Modells der sowjetischen Gesellschaft essentiellen Bereichs des Alltagslebens zu liefern, in dem der Bürger zum Sowjetpatrioten erzogen wurde. Es bleibt nur zu wünschen, dass diese Arbeit ihre würdigen Nachfolger findet.

Peter Kaiser, Freiburg i.Br.

Zitierweise: Peter Kaiser über: Ol’ga Ju. Nikonova: Vospitanie patriotov. Osoaviachim i voennaja podgotovka naselenija v ural’skoj provincii (1927–1941 gg.). Moskva: Novyj Chronograf, 2010. 471 S., Abb. ISBN: 978-5-94881-138-3, http://www.oei-dokumente.de/JGO/erev/Kaiser_Nikonova_Vospitanie_patriotov.html (Datum des Seitenbesuchs)

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