Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2011, 1

Verfasst von: Kerstin S. Jobst

 

Georgiy Kasianov, Philipp Ther (eds.) A Laboratory of Transnational History. Ukraine and Recent Ukrainian Historiography. Budapest: Central European University Press, 2009. VII, 310 S. ISBN: 978-963-9776-26-5.

1995 stellte der US-amerikanische Osteuropahistoriker Mark von Hagen die Frage, ob die Ukraine überhaupt eine Geschichte habe. (Mark von Hagen Does Ukraine Have a History?, in: Slavic Review 54 (1995) 3, S. 658–673.) Diese war freilich rhetorisch gemeint, kritisierte er doch die Ignorierung des ukrainischen Faktors in der osteuropäischen Geschichte zumal durch die westlichen Fachkolleginnen und -kollegen. Für die sowjetische Historiographie traf dieser Vorwurf insofern auch zu, als dass ukrainische Geschichte dort nur im Zusammenhang mit derjenigen des großen russischen Brudervolks eine größere Rolle spielte. Fünfzehn Jahre später kann davon keine Rede mehr sein. Im angelsächsischen und im deutschsprachigen Raum – in der Ukraine sowieso – befassen sich inzwischen zahlreiche Historikerinnen und Historiker mit den ukrainischen Ländern; zu einem speziell der ukrainischen Geschichte gewidmeten Lehrstuhl haben es freilich weder deutsche, noch österreichische oder schweizerische Universitäten bislang gebracht. Historiographischen Trends und einer zielgerichteten Geschichtspolitik in der Ukraine selbst war es geschuldet, dass vielen seit den neunziger Jahren verfassten Werken die Konzentration auf die ukrainische Nationalität gemein war. Die nicht für die ukrainischen Länder, sondern für den ganzen ostmitteleuropäischen Raum zu konstatierende hochkomplexe Multiethnizität geriet demgegenüber in den Hintergrund. Vereinfacht heißt dies, die ukrainischen Länder wurden historiographisch meist als ethnisch homogen dargestellt, während den regional vielfach dominierenden Russen oder Polen die Rolle der Fremden, der Besatzer zugeschrieben worden ist.

Die Herausgeber des vorliegenden Bandes machen sich dagegen eine neue historiographische Mode – die der Transnationalität – zu eigen und wollen gar „almost an alternative reader of Ukrainian history“ (S. 4) vorgelegt haben. Dies ist sicher nicht gelungen, zumal in den letzten Jahren bereits eine Reihe von Arbeiten erschienen ist, welche die Geschichte der ukrainischen Länder nicht mit der einer exklusiven Geschichte der ukrainischen Nation verwechselt haben. Gleichwohl liegt alles in allem eine interessante Aufsatzsammlung vor. In einem ersten Teil diskutieren Kasianov und Ther sowie mit von Hagen und Andreas Kappeler weitere namhafte Ukraine-Historiker die Vor- und Nachteile einer transnationalen Geschichtsschreibung. Ihrem Befund, dass transnationale Interpretationsansätze gerade mit den ukrainischen Ländern einen vorzüglichen Untersuchungsgegenstand gefunden haben, kann man natürlich nur zustimmen. Dass besonders der im Januar 2010 kurz vor seiner Abwahl stehende Präsident Viktor Juščenko die Nationalgeschichtsschreibung „morally, politically, and materially“ (S. 11) gefördert hat, macht Kasianov in seinem Beitrag „‚Nationalized‘ History: Past Continuous, Present Perfect, Future …“ mit feinformulierter Polemik deutlich.

In einem thematisch ausgerichteten zweiten Teil werden dann konkrete Beispiele aus der Forschungspraxis für das neuere transnationale Paradigma vorgestellt. Alle Beiträge stammen von renommierten Vertreterinnen und Vertretern der Ukraine-Historiographie: N. Jakovenko („Choice of Name versus Choice of Path. The Names of Ukrainian Territories from the Late Sixteenth to the Late Seventeenth Century“) oder mit J.-P. Him­ka („Victim Cinema. Between Hitler and Stalin. Ukraine in World War II – The Untold Story“), O. Toločko („Fellows and Travellers. Thinking about Ukrainian History in the Early Nineteenth Century), A. Miller zusammen mit der Sprachwissenschaftlerin O. Ostapčuk („The Latin and the Cyrillic Alphabets in Ukrainian National Discourse and in the Language Policy of Empires“), J. Hrycak („On the Relevance and Irrelevance of Nationalism in Contemporary History“) und R. Szpor­luk („The Making of Modern Ukraine. The Western Dimension“). Diese Forscherinnen und Forscher haben sich seit langem von einer exklusiven Nationalgeschichtsschreibung verabschiedet; ihre transnationalen Betrachtungsweisen sind in der Fachwelt bekannt und anerkannt; spannender wäre es deshalb sicher gewesen, in diesem Abschnitt Forschungen jüngerer Kolleginnen und Kollegen aus der Ukraine zu berücksichtigen, die ihre Karriere noch vor sich haben, sich an dem offiziellen Geschichtsdiskurs Kievs nicht beteiligen und sich eigene methodische transnationale Perspektiven „leisten“.

In einem wesentlichen Punkt sei Kritik erlaubt: Eine theoretische Hinführung zu Begriff und Inhalt des Transnationalismus unterbleibt in der ohnehin nicht recht befriedigen wollenden Einleitung. So heißt es etwas knapp, „there is no agreement how to define or use the term transnational“ (S. 3); anschließend werden in einem Satz unterschiedliche US-amerikanische und europäische Lesarten dieser Begrifflichkeit erwähnt. Philip Ther versucht sich in seinem Beitrag „The Transnational Paradigm of Historiography and Its Potential for Ukrainian History“ dennoch an Definitionen von Transnationalität, Kulturtransfer, Transfergeschichte und histoire croisée. Transnationalität ist für ihn ein new paradigm [that] concentrates on relations between cultures, societies, or groups of societies and deliberately transcends the boundaries of one culture or country (S. 86). Hilfreich sei dieses Paradigma, da es die Wechselseitigkeit und Hybridität der europäischen Kulturen herauszuarbeiten helfe. Thers Ausführungen wären gut geeignet gewesen, gemeinsam mit dem erfrischenden Überblick Kasia­novs über die Geschichte der ukrainischen Nationalgeschichtsschreibung den Kern einer informativeren Einleitung zu bilden. Dennoch: Mit „A Laboratory of Transnational History“ liegt ein interessanter Sammelband vor.

Kerstin S. Jobst, Potsdam/Salzburg

Zitierweise: Kerstin S. Jobst über: Georgiy Kasianov, Philipp Ther (eds.) A Laboratory of Transnational History. Ukraine and Recent Ukrainian Historiography. Central European University Press Budapest 2009. VII. ISBN: 978-963-9776-26-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Jobst_Kasianov_Laboratory.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2011 by Osteuropa-Institut Regensburg and Kerstin S. Jobst. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@osteuropa-institut.de