Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 1 (2011), 3 Rezensionen online

Verfasst von: Andrzej Janeczek

 

Grenzräume und Grenzüberschreitungen im Vergleich. Der Osten und der Westen des mittelalterlichen Lateineuropa. Hrsg. von Klaus Herbers und Nikolas Jaspert. Berlin: Akademie Verlag, 2007. 459 S., Abb., Ktn., Tab. = Europa im Mittelalter. Abhandlungen und Beiträge zur historischen Komparatistik, 7. ISBN: 978-3-05-004155-1.

Grenzen und Grenzräume stellen seit Langem eine Faszination für die Historiographie, darunter die Mediävistik, dar, gegenwärtig jedoch lässt sich ein steigendes Interesse an dieser Problematik beobachten. In den letzten 20 Jahren wurden ihr zahlreiche internationale Konferenzen und Sammelbände gewidmet, an denen Historiker aus vielen Ländern beteiligt waren. Die wachsende Popularität dieses Themas in der europäischen Mediävistik ist durchaus bezeichnend, denn jenseits des Atlantiks wird es seit hundert Jahren intensiv erforscht, insbesondere in Hinblick auf die Kolonisierungsgeschichte des „wilden Westen“. Die sichtbare Belebung der Diskussion und Intensivierung der Studien in der englischen, deutschen, französischen oder spanischen Historiographie hat gleichzeitig zu einer bedeutenden Ausweitung des Untersuchungsobjektes geführt. Man hat damit begonnen, das Konzept nicht nur auf Territorialgrenzen anzuwenden, sondern auch auf gesellschaftliche und kulturelle Grenzen aller Art, wie auch auf unsichtbare, durch Unterschiede im Ethnos, in der Religion, im Geschlecht und in der gesellschaftlichen Stellung oder durch die Vielfalt der Sprachen entstandene Teilungslinien. Das Interesse entwickelte sich noch in einer anderen Richtung und fing an, sich nicht nur auf die Grenze als Teilungslinie zu fokussieren, sondern in immer größer werdendem Maße au die diesseits und jenseits der Grenzen liegenden Zonen, also die Grenzräume, einzubeziehen. Man ist also dem Gedanken von Lucien Febvre gefolgt, der schon 1922 die Historiker dazu aufgerufen hatte, sich mehr mit den Grenzräumen zu befassen als nur mit den Grenzen selbst, insbesondere den politischen. Diese Verschiebung der Aufmerksamkeit wurde von der Wahrnehmung eines fundamentalen Unterschiedes in der Bedeutung von Grenzen und Grenzräumen begleitet. Man hat bemerkt, dass die Grenzzone eine eigenartige Negation der Grenze darstellt – sie muss nicht zwingenderweise trennen, sondern sie kann auch annähern und zusammenbringen, verschiedene ethnische und kulturelle Elemente zusammenbringen und zu etwas Neuem vereinen. In diesen sehr oft weiten Kontaktzonen kam es zur Entstehung spezieller Kulturformen und zu Formierung komplex zusammengesetzter Gesellschaften. Überwiegend auf diese Weise wird in der gegenwärtigen Forschung die Grenzzone verstanden: als Feld der Berührung und Interaktion der Gesellschaften und Kulturen, als Szene der Konfrontation und des Konfliktes, aber auch als Ort der Kohabitation, des Dialogs, des gegenseitigen Voneinander-Profitierens und des Fusionierens.

Solche Grenzzonen, die im mittelalterlichen Europa multikulturelle und multiethnische Gesellschaften herausbildeten, waren Elsass und Lothringen, Süditalien, Wales, Irland, Kärnten und die Krajina, Siebenbürgen, das Burgenland, Tirol, Gorizien und Istrien, die Balkanregion und – seit der arabischen Eroberung und der Reconquista – die Staaten der iberischen Halbinsel; ferner, schon zu spätkarolingischer Zeit, die gesamte sog. Germania Slavica, außerdem Schlesien, Preußen und Livland. Ein solches Grenzland war auch Rotreußen, beginnend mit seiner Inkorporation in die Länder der polnischen Krone in der Mitte des 14. Jahrhunderts. Genetisch waren das Grenzländer, die infolge von Expansion entstanden sind – einer politischen oder wirtschaftlichen –, auf Gebieten sich verändernder Staatszugehörigkeit, die zugleich starken, unterschiedlich gerichteten Migrations- und Kolonisationsbewegungen unterlagen. Ein Teil dieser Grenzländer zeichnete sich durch noch ein weiteres gemeinsames Merkmal aus: Sie lagen am Rand des lateinischen Europas. Sie stellten die Peripherien der westlichen Zivilisation dar, an ihrem Berührungsort mit anderen, nichtkatholischen Kulturformationen.

Den Peripherien Lateineuropas gewidmet ist das zu besprechende Buch. Sein Gegenstand ist jedoch nicht die Peripherie als ein Zustand der Verdünnung oder einer mit der Bewegung zum Rand anwachsender Kulturanämie, sondern Peripherie als Raum, in dem – gerade dank dieser speziellen Lage – verschiedene Religionen, ethnische Identitäten, Sprachen, Bräuche, Normen und Werte miteinander in Berührung kommen und sich aneinander reiben konnten. Der Band, aus 20 Artikeln bestehend, schreibt sich in die oben genannte Richtung der Sammelbände ein, welche die unterschiedlichen Aspekte der europäischen Grenzländer im Mittelalter behandeln, er zeichnet sich jedoch zugleich durch eine eigene, genau bestimmte Konzeption aus. Klaus Herbers (Erlangen) und Nikolas Jaspert (Bochum), die Redaktoren dieses Bandes und Organisatoren der ihm zugrundeliegenden Konferenz in Erlangen (2004), machten sich die Mühe, dieser Publikation eine klare Ausrichtung und innere Konsistenz zu geben. Sie beschränkt sich auf zwei große Grenzländer in extremo Europae: die iberische Halbinsel und Ostmitteleuropa. Zu ordnender Achse des so definierten Untersuchungsobjektes wurden Zusammenstellung und Vergleich der systematischen Aspekte des Themas. Sie sind in 9 Kategorien unterteilt: Siedlung, Rechtssatzung und Rechtsprechung, religiöse Minderheiten, ethnische und andere Minderheiten, Übersetzungen und Kulturtransfer, Sprachgrenzen, diplomatische Kontakte, Heilige, kirchliche Raumgliederung. Diese Aspekte bilden in dem Band abgegrenzte Rubriken mit jeweils 2 Artikeln: einem die Iberia betreffenden und einem, der Ostmitteleuropa behandelt. Der nach diesem Prinzip aufgebaute Band wird von zwei einleitenden Studien eröffnet, die von den Redakteuren stammen. K. Herbers stellte den Europabegriff der mittelalterlichen Quellen vor und die gegenwärtige Diskussion über den Umfang und die Teilungen Europas, während N. Jaspert einen Überblick über die Forschungsentwicklung gibt und die Grenzterminologie der zeitgenössischen Quellen zusammenstellt.

Programm und Komposition des Bandes dienen dem Hauptziel, nämlich dem Vergleich und der Gegenüberstellung zweier polar situierter Grenzländer des lateinischen Europas. Selbstverständlich kann keine Rede von einer Gleichzeitigkeit oder Gleichrangigkeit der Erscheinungen sein, die an den beiden Rändern des Kontinents auftraten. Es geht hauptsächlich um die Präsentation der Ähnlichkeiten und Unterschiede, um auf diesem Wege das Wesensspezifische des Grenzlandes hervorzuheben. Die paarweise zusammengestellten Studien sollen sich ergänzen und Kontraste sichtbar machen. Man muss zugeben, dass die Redaktoren des Bandes sich viel Mühe gegeben haben, um ihr Thema wirklich komparatistisch zu behandeln. Der Plan gelang jedoch nur in begrenztem Grade, denn trotz der zu Dialog und Konfrontation provozierenden Form des Sammelwerkes haben die Autoren in vielen Fällen die erwartete Diskussion miteinander nicht aufgenommen.

In der für die Siedlungsproblematik bestimmten Rubrik stellt Jan M. Piskorski (Stettin) die Entwicklungsprozesse der sogen. deutschen Ostsiedlung am Beispiel Pommerns dar, unter besonderen Berücksichtigung von Fragen der Migration und Akkulturation, während José Ángel García de Cortázar (Santander) die räumlichen Muster der arabischen und kastilischen Kolonisation von La Mancha rekonstruiert. In den zwei Rubriken zu sprachlichen Fragen findet sich die Präsentation von Christiane Schiller (Erlangen), die mehr die gesellschaftliche als die räumliche Dimension der Sprachgrenzen im Großfürstentum Litauen behandelt, angereiht an den Artikel von Jürgen Lang (Erlangen), der aus zwei literarischen Texten Zeugnisse zum Alltagsgebrauch der arabischen Sprache im Kastilien des 14. Jahrhunderts schöpft. Des Weiteren wird der Text von Felicitas Schmieder (Hagen) über die pragmatischen Übersetzungen, welche im Osten für die Zwecke der katholischen Mission und zum Nutzen des Handels vorbereitet wurden, wird einem Artikel Matthias Masers (Erlangen), über die arabisch-lateinische translatorische Aktivität in den mozarabischen, muslimischen und christlichen Milieus der iberischen Halbinsel begleitet. Der letztgenannte Autor kommt zu dem Ergebnis, dass die häufige Annahme, diese Übersetzungen seien Zeichen für die Offenheit gegenüber fremden Einflüssen und für die Durchbrechung von Kulturgrenzen, zu modifizieren sei, denn sie berücksichtige nicht die Intentionen, mit denen diese Übersetzungen gemacht wurden: Sie sollten nämlich nicht so sehr dem Bau von Brücken zur fremden Kultur dienen, sondern dem Gegenteil – der Betonung von deren Fremdheit und der Stärkung der eigenen Gruppenidentität. Die Rubrik „Diplomatische Kontakte“ füllt einerseits der Artikel von Henryk Samsonowicz (Warschau) über die Verdichtung der politischen Kommunikation Polens mit den Staaten Europas und über deren wachsende Rolle in der Region während des späten Mittelalters; er wird ergänzt durch die Studie von Humberto Baquero Moreno (Porto) über die Entstehung der portugiesisch-spanischen politischen Grenze.

Das Beispiel anderer Artikel zeugt davon, dass ausreichende Möglichkeiten zur Gegenüberstellung und zum Vergleich verschiedener Merkmale der Grenzlagesituationen im Osten und im Westen Europas vorhanden sind. In der Rubrik zur Rechtsproblematik zeigen die Studien von Andreas Rüther (Gießen) und Pascuale Martínez Sopena (Valladolid) den Gruppen- und Segregationscharakter des Stadtrechts und das Filiationsphänomen seines Musters: des Magdeburger und Lübecker Rechts östlich der Elbe seit dem 12. Jahrhundert und der verschiedenen fueros in der Iberia im 12.–13. Jahrhundert. In den zwei Rubriken zu Minderheitenfragen finden sich Texte von Christian Lübke (Greifswald) und Jean-Pierre Molénat (Paris), die multireligiöse Gemeinschaften beider Zonen als Produkte der politischen und wirtschaftlichen Expansion sowie der Kolonisierung und Modernisierung des Landes (melioratio terrae, repoblación) darstellen, auf dem Hintergrund eines breiten Panoramas von Prozessen, die vom 8. bis in das 16. Jahrhundert abliefen. Weiterhin analysieren Nora Berend (Cambridge) und Eduardo Manzano Moreno (Madrid) die Lage von Minderheitsgruppen, die von diesen erfüllten Funktionen und das pragmatische Verhältnis des Staats, in einem Fall Ungarns zu nichtchristlichen Nomadenvölkern, Juden und deutschen Migranten in Siebenburgen, im anderen Fall des Omajjadenstaates zur arabisierten alten Visigotenaristokratie im 8.–9. Jahrhundert. Chancen zu einem vergleichenden Bild geben dem Leser auch die zwei letzten Rubriken: die eine über die Heiligenverehrung mit den Texten von Roman Michałowski (Warschau) über Polen und seine Nachbarländer und von Patrick Henriet (Bordeaux) über Spanien, die andere Rubrik über die Entstehung der Diözesalstrukturen der Kirche in Polen und auf der iberischen Halbinsel, mit Artikeln von Jerzy Strzelczyk (Posen) und José Luis Martín Martín (Salamanca).

Das Buch beweist, dass das Konzept des Grenzlandes als eines Sonderortes, der eigene gesellschaftliche Formationen und originelle Kulturgestalten herausbildet, weiter lebendig, fruchtbar und für die Forschung längst nicht ausgeschöpft ist, zugleich jedoch – durch seine Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit – risikoreich und den Versuchen zur Konkretisierung leicht entgleitend.

Andrzej Janeczek, Warschau

Zitierweise: Andrzej Janeczek über: Grenzräume und Grenzüberschreitungen im Vergleich. Der Osten und der Westen des mittelalterlichen Lateineuropa. Hrsg. von Klaus Herbers und Nikolas Jaspert. Berlin: Akademie Verlag, 2007. = Europa im Mittelalter. Abhandlungen und Beiträge zur historischen Komparatistik, 7. ISBN: 978-3-05-004155-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Janeczek_Grenzraeume_und_Grenzueberschreitungen.html (Datum des Seitenbesuchs)

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