Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 3 (2013), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Dennis Hormuth

 

Matthias Thumser (Hrsg.): Geschichtsschreibung im mittelalterlichen Livland. Berlin, Münster: Lit, 2012. 312 S. = Schriften der Baltischen Historischen Kommission, 18. ISBN: 978-3-643-11496-9.

Inhaltsverzeichnis:

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Der hier zu besprechende Sammelband geht auf eine Tagung gleichlautenden Titels zurück, die von der Baltischen Historischen Kommission im Mai 2008 veranstaltet wurde. Dass bei einem Werk zur mittelalterlichen Geschichtsschreibung auch eineevangelische Geschichte Livlands(S. 155) Platz findet, darf nicht verwundern, denn in der livländischen Geschichte wird der Epocheneinschnitt zumeist erst mit dem Livländischen Krieg 1558–1582/83 gesetzt. Der Band beinhaltet neben dem einleitenden Vorwort des Herausgebers sechs Beiträge mit Einzeluntersuchungen und einen abschließenden Beitrag mit einer übergreifenden Fragestellung. Fast durchweg nehmen sich die Autoren Geschichtswerken an, die bisher nicht die gesteigerte Aufmerksamkeit der Forschung gefunden haben. Schwerpunkte bilden der Überlieferungskomplex der Geschichtswerke, die Frage nach dem Verfasser sowie die politische Position nebst der Schreibintention desselben. Doppeltes Ziel des Bandes ist es nach Matthias Thumser,einerseits eine Art von Quellenkundevorzulegen und andererseitsdas vielfältige Potential bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit mittelalterlicher Geschichtsschreibung offenkundigzu machen (S. 8).

Arno Mentzel-Reuters hinterfragt die 1872 von Konstantin Höhlbaum getroffene Vermutung, dass sich aus der Chronik Johann Renners (1525–1583) eine niederdeutsche jüngere livländische Reimchronik erschließen lasse. Diese schrieb Höhlbaum dem Deutschordenspriester Bartholomäus Hoeneke zu. Mentzel-Reuters kommt zu dem Schluss, dass Höhlbaums Forschungsergebnisse nicht belastbar seien und die erschlossene Biographie Hoenekes sowie die Rekonstruktion seines Werkes auf nicht gesicherten, teilweise sogar falschen Annahmen beruhe. Stattdessen stellt er mit einem im Anhang abgedruckten Chronikfragment eine mögliche ostmitteldeutsche Vorlage Renners vor.

Anti Selart wendet sich der livländischen Chronik des Hermann von Wartberge, Kanzleileiter des livländischen Ordensmeisters, zu, die 1378 abrupt abbricht. Der Deutsche Orden habe seinen Führungsanspruch in Livland zwar de facto durchsetzen können, in den Prozessen gegen den Erzbischof von Riga vor der Kurie und den Königshöfen aber sei eine schriftlich fixierte Argumentation notwendig gewesen. Diese liefere die Chronik Wartberges in einer historischen Argumentation. Die Chronik sei zu einer Krisenzeit der Institution, der der Verfasser angehörte, zum Zeitpunkt eines gravierenden Legitimationsdefizits entstanden.

Thomas Brück behandelt drei Schriften, die sich jeweils aus einer der drei Perspektiven dem Konflikt zwischen Deutschem Orden (Christoph Forstenau), Erzbischof von Riga (Silvester Stodewescher) und Stadt Riga (Herman Helewegh) annehmen. Die drei Verfasser behandelten in ihrem Berichtszeitraum zwar die gleichen Ereignisse, wählten entsprechend ihren Absichten aber jeweils andere Fakten aus. Brück zeigt auf, wie die Chronistik die Interessen der Politik vertrat. So hätten die Chronisten die politischen Zielsetzungen ihrer Auftraggeber schriftlich fixiert, sie gelehrt untermauert und historisch legitimiert.

Die vermutlich von Christian Bomhower 1508 verfasste schöne Historie stellt Matthias Thumser als eine antirussische Propagandaschrift vor, die im Zuge einer Ablasskampagne zur Finanzierung eines Krieges des Deutschen Ordens gegen das Moskauer Reich verfasst worden sei. Die Schrift weise in ihrer manipulativen Darstellungsweise ein überzeichnetes Feindbild auf. So sei ein in die schöne Historie interpolierterherzzerreißende[r](146) Brief von in Russland gefangenen deutschen Kaufleuten möglicherweise nicht echt.

Klaus Neitmann untersucht Johann Lohmüllers livländische Geschichte vor allem im Hinblick auf Schreibintention und politische Positionierung des Autors. Das Leitthema des Werkes sei ausschließlich die Auseinandersetzung zwischen Deutschem Orden und Erzbischof von Riga, alle anderen livländischen Landesherren und die drei großen Städte seien lediglich in ihren Bezügen zu diesem Konflikt wichtig. Die Entstehung des Werkes hänge mit der Rigaer Koadjutorfehde zusammen, wobei Lohmüller aus seiner evangelischen Gesinnung heraus die Seite Erzbischof Wilhelms von Brandenburg eingenommen habe.

In ihrem beachtenswerten Aufsatz nimmt Antje Thumser livländische Amtsträgerreihen in den Blick. Diese Ordensmeister- und Bischofsreihen mit in der Regelwenn überhaupt vorhandennur sehr kurzen Ergänzungen jenseits der Amtsjahre spiegelten dennoch die Ziele Memoria, Faktentradierung und Verkörperung der Institutionengeschichte wider.

Volker Honemann geht in dem abschließenden Beitrag in einer Art Zusammenfassung unter einer weiterführenden Fragestellung Selbstverständnis und Identitätsvorstellungen der mittelalterlichen Geschichtsschreibung Livlands nach. Zusätzlich zu den im Sammelband behandelten Werken zieht er die Livländische Reimchronik aus dem 13. Jahrhundert heran. In einem Vergleich mit der Geschichtsschreibung verschiedener Territorien des Römischen Reiches zeige sich, dass die livländische Geschichtsschreibung einige Parallelen aufweise, aber auch Spezifika zu beobachten seien. Letztere bestünden beispielsweise in dem Bewusstsein, an den Grenzen der Christenheit in steter Bedrohung durch einen übermächtigen Feind zu leben. Keiner der livländischen Chronisten blicke über den engen Tellerrand Livlands einmal hinaus; schon Ereignisse in Preußen würden nur punktuell dargestellt.

Insgesamt zeigt sich, dass das Konzept des Sammelbandes aufgegangen ist. Verschiedene mittelalterliche Texte Livlands werden wieder ins Bewusstsein der geschichtswissenschaftlichen Forschung gerückt und trotz unterschiedlicher Fragestellungen im Einzelnen auf ein recht einheitliches Niveau des Erkenntnisstandes gestellt. Der Band ist somit als sinnvolle Ergänzung zum weit verbreiteten SammelbandGeschichte der deutschbaltischen Geschichtsschreibung zu sehen und wird künftig neben diesem als Standartwerk häufig zu Rate gezogen werden. Auf Basis der hier geleisteten Grundlagen sind nun eingehendere Betrachtungen des Gegenstandes unter spezifischeren Fragestellungen auf monographischer Basis wünschenswert.

Dennis Hormuth, Kiel

Zitierweise: Dennis Hormuth über: Matthias Thumser (Hrsg.): Geschichtsschreibung im mittelalterlichen Livland. Berlin, Münster: Lit, 2012. 312 S. = Schriften der Baltischen Historischen Kommission, 18. ISBN: 978-3-643-11496-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Hormuth_Thumser_Geschichtsschreibung_im_mittelalterlichen_Livland.html (Datum des Seitenbesuchs)

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