Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Jens Hoppe

 

The Second World War and the Baltic States. Ed. by James S. Corum / Olaf Mertelsmann / Kaarel Piirimäe. Frankfurt a.M. [usw.]: Lang, 2014. 331 S., 3 Graph., 1 Tab. = Tartu Historical Studies, 4. ISBN: 978-3-631-65303-6.

Inhaltsverzeichnis:

http://d-nb.info/1050666887/04

 

Der von James S. Corum, Olaf Mertelsmann und Kaarel Piirimäe herausgegebene Sammelband zum Zweiten Weltkrieg und den baltischen Staaten ist als vierter Band der Reihe Tartu Historical Studies erschienen. Entsprechend positioniert er sich vor allem innerhalb des Baltikums und enthält hauptsächlich Beiträge von baltischen oder im Baltikum tätigen Autoren. Gerade deshalb ist er für Leser außerhalb dieser Region und damit meist ohne baltische Sprachkenntnisse besonders spannend. In 14 Beiträgen widmen sich die Autoren diversen Aspekten der Weltkriegsgeschichte, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf Estland, dem sich allein sechs zuwenden.

Was bietet der Sammelband im Einzelnen? Die behandelten Themen reichen von der Wahrnehmung des Baltikums in der westlichen Welt (Belgien, Frankreich, Großbritannien) über militärische Entwicklungen einschließlich der Vorbereitungen der erneuten Besetzung Estlands durch die Sowjetunion bis hin zu Fragen der deutschen Besatzungsverwaltung und Propaganda. Zeitlich beginnen die Beiträge in der Vorkriegszeit (Louis Clerc) und enden in der Nachkriegszeit (Tina Tamman). Nach einer kurzen Einleitung durch die Herausgeber, in der in erster Linie die Einzelbeiträge knapp vorgestellt werden, beginnt der Band mit einem Blick auf die baltischen Staaten in Frankreichs strategischen Planungen von Louis Clerc und endet nach über 300 Seiten mit Kaarel Piirimäes Beitrag über die Bemühungen von August Torma, die britische öffentliche Meinung noch während des Zweiten Weltkriegs zugunsten der Unabhängigkeit Estlands zu beeinflussen. Im Folgenden werden einzelne Aufsätze exemplarisch herausgegriffen, um aufzuzeigen, was ein Leser in diesem Band vorfindet.

Pauli Heikkilä (S. 7186) behandelt den finnischen Politiker Toivo Mikael Kivimäki (18861968), der im August 1940 nach Berlin geschickt wurde, um die Beziehungen mit dem Deutschen Reich auszubauen und gleichzeitig dort Finnlands Interessen wahrzunehmen. Er hat regelmäßig Berichte nach Helsinki geschickt und über die deutsche Politik, insbesondere in Estland, berichtet. Dabei bezog Kivimäki ab Sommer 1941 Informationen auch direkt aus dem Baltikum und erhielt ein deutliches Bild der deutschen Besatzungspolitik. Aber er war nicht nur passiver Beobachter. Vielmehr hat er seine Idee einer Europäischen Konföderation zum Schutz gegen Russland im Auswärtigen Amt vorgetragen und auch dem finnischen Präsidenten übermittelt. Sein Plan sah eine Teil­aufgabe der staatlichen Souveränität als zentrales Element vor. Angesichts der ablehnenden Haltung Berlins, aber auch des ab 1943 ausbleibenden militärischen Erfolgs der Wehrmacht und der erneuten Besetzung des Baltikums und fast ganz Osteuropas durch die Sowjetarmee in den Jahren 1944/45 war diese Idee zum Scheitern verurteilt. Heikkilä zeigt anhand dieser spannenden Persönlichkeit eine finnische Sicht auf das deutsch besetzte Baltikum und die Sowjetunion. Dies ist besonders interessant, weil hier eine ganz eigene Sicht auf die Stalinsche Expansionspolitik aufscheint.

Im Gegensatz hierzu wendet sich Tina Tamman (S. 8798) der britischen Politik zu und schildert detailliert, wie es zu einer de-facto-Anerkennung der sowjetischen Annexion der baltischen Staaten gekommen ist. Ob allerdings ihrem Ergebnis zu folgen ist, dass nämlich ohne das Verfahren zu dem estnischen Schiff Vapper diese Anerkennung verzögert worden oder gar ausgeblieben wäre, steht dahin. Schließlich gab es keinen unabwendbaren Zwang für die britische Regierung, die Annexion der drei baltischen Staaten in dieser Weise anzuerkennen. Die Verantwortung hierfür lag weder bei einem Richter noch einem estnischen Kläger, sondern allein bei der Regierung.

Einen rein militärischen Zugriff wählt David M. Glantz (S. 121148), der einen Katalog der militärischen Operationen im Baltikum zwischen 1941 und 1945, aufgeteilt in drei Phasen, vorstellt. Neben dieser chronologischen Übersicht konzentriert er sich auf die von ihm so genannten “forgotten“ battles, ohne in der Kürze doch wesentlich mehr als karge Informationen zu diesen bieten zu können. Als ein Desiderat der Forschung macht Glantz die Beteiligung baltischer Soldaten auf beiden Seiten der Front aus.

Ein bedeutender Beitrag zur Rolle der Luftwaffe im Krieg gegen die Sowjetunion liefert James S. Corum (S. 149174) am Beispiel der Luftflotte 1 unter General Alfred Keller. Corum gelingt es, die hohe Bedeutung der Luftwaffe für die Kriegführung im Jahr 1941 aufzuzeigen und zugleich deren Probleme und Schwächen deutlich zu machen. Die große Luftüberlegenheit war eine der Grundvoraussetzungen für das schnelle und tiefe Eindringen der Wehrmacht in das sowjetisch besetzte Baltikum. Sie endete jedoch mit dem Jahr 1942.

Ardi Siilaberg (S. 193207) beschäftigt sich als einziger gezielt mit der Sowjetunion als Akteur im Baltikum, und zwar hinsichtlich der administrativen Vorbereitung der Wiederbesetzung Estlands. Hierbei wird deutlich, wie die Sowjetunion die Verwaltung vorbereitete und welche Schwierigkeiten dabei auftraten. Insbesondere die erstaunlich unprofessionelle Schulung der Personen, die im Herbst 1944 nach Estland geschickt wurden, erstaunt den Leser. Siilaberg kommt zu dem Ergebnis, dass die geringe Kompetenz der sowjetischen Verwaltungsleute und die schlechte Vorbereitung auf ihren neuen Einsatzort maßgeblich dazu beigetragen haben, dass die Sowjetisierung der estnischen Wirtschaft zu einer ökonomischen Katastrophe führte.

Lars Ericson Wolke (S. 209221) stellt mit Schweden einen anderen Akteur vor, dessen besonderes Interesse am Baltikum sich nicht nur historisch erklärt, sondern auch aus dem Gefühl einer Bedrohung heraus. Zuerst wurde die Sowjetunion, dann ab 1941 das Deutsche Reich und ab Herbst 1943 wieder die Sowjetunion als bedrohlicher Staat gesehen, sodass sich die Geheimoperationen und die Informationsbeschaffung im Baltikum auf diese beiden Akteure konzentrierten. Ein entsprechendes Netz an Informanten war dort zwischen 1940 und 1945 aktiv. Daneben schildert Ericson Wolke verschiedene Evakuierungsmaßnahmen von estnischen Schweden und die Flucht von Menschen aus den baltischen Staaten nach Schweden.

Der estnischen Wahrnehmung deutscher Propaganda zwischen 1941 und 1944 widmet sich Karl Alenius (S. 249272) in seinem sehr informativen Beitrag. Im Ergebnis hält er fest, dass die Mehrheit der estnischen Bevölkerung die Wehrmacht als Befreier von sowjetischer Unterdrückung ansah, der deutschen Besatzungsverwaltung kritisch gegenüberstand und auf staatliche Unabhängigkeit hoffte. Da letztere nicht eintrat, aber seit 1943 die Gefahr einer erneuten sowjetischen Besetzung des Landes anwuchs, entstand eine ganz eigene Situation. Obgleich der deutschen Propaganda nicht geglaubt wurde, trugen Esten viel dazu bei, dass die Wehrmacht weiterhin Krieg gegen die Sowjetunion führen konnte – als das kleinere Übel im Vergleich zu einer erneuten sowjetischen Annexion. Alenius führt aus, dass die deutsche Propaganda in dem Versuch kläglich scheiterte, das deutsche Verhalten gegenüber den Esten als fair darzustellen.

Abschließend sei auf Toomas Hiios Untersuchung des Verhältnisses zwischen der deutschen Zivilverwaltung und dem Militär im besetzten Estland (S. 273306) hingewiesen, in dem gleichsam lexikalisch die verschiedenen Akteure beschrieben werden. Auch wenn Hiios nicht viel grundlegend Neues vorlegt, ist der Beitrag für ein besseres Verständnis der Situation im deutsch besetzten Estland wichtig und hilfreich.

Die Autoren der Beiträge sind zuvor vielfach durch monografische Arbeiten zu ihren Themenbereichen in Erscheinung getreten, so etwa Tina Tamman zu August Torma, David M. Glantz zur Sowjetarmee oder James S. Corum zur Luftwaffe. Sie sind also ausgewiesene Experten, sodass in der Regel qualitativ hochwertige Aufsätze geboten werden. Laut der Einleitung der Herausgeber gliedert sich der Band in drei thematische Bereiche: „international politics“, „military operations“ und „Nazi occupation“. Tatsächlich enthält der Band keine Kapiteleinteilung, und die Dreiteilung wurde bei der Platzierung der Beiträge auch nicht konsequent eingehalten. Darüber hinaus gibt es Überschneidungen einzelner Aufsätze, allen voran bei Tina Tamman und Kaarel Piriimäe sowie bei Kristo Nurmis und Kari Alenius, die vermeidbar erscheinen.

Bereits die Vorstellung der Einzelbeiträgen zeigt, dass wichtige Bereiche der baltischen Geschichte während des Zweiten Weltkriegs nicht oder kaum behandelt werden. Litauen fehlt fast komplett, die Sowjetunion wird – mit der genannten Ausnahme Ardi Siila­bergs – nicht berücksichtigt. Nun kann Letzteres damit zusammenhängen, dass die sowjetische Zeit nach 1991 im Baltikum bereits intensiv erforscht worden ist, also einem baltischen Autor dieser Teil selbstverständlich präsent ist. Es verwundert aber hinsichtlich des anvisierten Leserkreises außerhalb des Baltikums. Des Weiteren findet sich gar nichts zu den Verbrechen der Besatzungsorgane!

Bedauerlicherweise sind im Aufsatz von David M. Glantz die vier Karten, auf die im laufenden Text verwiesen wird (S. 130, 135, 138 und 143), nicht zu finden. Ärgerlich ist das Fehlen eines Registers, insbesondere eines Sachregisters. Kein Sammelband sollte ohne ein solches Hilfsmittel erscheinen, denn ein wissenschaftlich ernst zu nehmendes Werk benötigt ein Register.

Jens Hoppe, Frankfurt/Main

Zitierweise: Jens Hoppe über: The Second World War and the Baltic States. Ed. by James S. Corum / Olaf Mertelsmann / Kaarel Piirimäe. Frankfurt a.M. [usw.]: Lang, 2014. 331 S., 3 Graph., 1 Tab. = Tartu Historical Studies, 4. ISBN: 978-3-631-65303-6., http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Hoppe_Corum_The_Second_World_War_and_the_Baltic_States.html (Datum des Seitenbesuchs)

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