Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Alexis Hofmeister

 

Russko-evrejskaja kul’tura. Sbornik statej. [Die russisch-jüdische Kultur. Aufsatzsammlung.] Otv. red. Oleg V. Budnickij. Moskva: Rosspėn, 2006. 495 S., Abb. = Istorija i kul'tura rossijskogo i vostočnoevropejskogo evrejstva. Novye istočniki, novye podchody. ISBN: 5-8243-0806-3.

Die Bedeutung einer kulturhistorisch erweiterten Sozialgeschichte für die Erforschung der Geschichte des Russischen Reichs wird unter deutschsprachigen Osteuropahistorikern heute kaum bestritten. Dem zu besprechenden Band liegt ein additiver und daher analytisch eher unscharfer Kulturbegriff zu Grunde, der aber gerade deshalb das inzwischen unüberschaubar breite Feld der Studien zu Geschichte und Literatur des russländischen Judentums vereint. Nach Meinung der Herausgeber stellt die russisch-jüdische Kultur am ehesten eine Art drittes Feld dar, das seine Existenz der Auseinandersetzung zwischen russischer und jüdischer Kultur seit der Aufklärung verdankt. Der von dem Rostover Historiker Oleg V. Budnickij herausgegebene Sammelband macht die Beiträge einer Konferenz zugänglich, die im Dezember 2005 vom Moskauer Zentrum für die Erforschung des russischen und osteuropäischen Judentums ausgerichtet wurde. Diese Konferenz stellte eine veritable Leistungsschau der jewish studies im russischsprachigen Raum dar, bei der neben jüngeren Forscherinnen und Forschern aus dem postsowjetischen Raum auch Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus den USA, Großbritannien, Frankreich, Ungarn und Neuseeland zu Wort kamen. Foren wie diese werden bedauerlicherweise von deutschsprachigen Osteuropahistorikern zu selten besucht. Neben den dominierenden literaturwissenschaftlichen und kunsthistorischen Themen enthält der Band bemerkenswerte Beiträge zur Geistes-, Alltags- und Wissensgeschichte der russisch-jüdischen Begegnung sowie zur Migration der russländischen Juden. Dass gerade die Herangehensweisen von Kunsthistorikern und Literaturwissenschaftlern auch für Historiker neue Perspektiven eröffnen, zeigt etwa der Beitrag von Larisa Lempertene (Vilnius), die vergleichend die Kindheitserinnerungen des Aufklärers Salomon Maimon (1754–1800) sowie des Historikers Simon Dubnow (1860–1941) liest. Beiden Texten lag die ebenso erfahrene wie erdachte Reise der Verfasser von der alten Welt der jüdischen Tradition in die neue Welt des universalen Fortschritts zugrunde. Die Langlebigkeit einer solchen Rhetorik des Aufbruchs, die zugleich eine des Abschieds war, deutet auf die Langsamkeit des historischen Wandels in der Welt des osteuropäischen Judentums hin. Auch der Beitrag von Mikhail Krutikov (Ann Arbor, Michigan) fußt auf autobiographischem Material, allerdings aus der Feder weniger bekannter Zeitzeugen. Béla Ba­lász (1884–1949) und Meir Wiener (1893–1941) wuchsen in der Vielvölkerwelt des Habsburgerreiches heran, bevor sie als überzeugte Kommunisten in die Sowjetunion emigrierten. In ihren in Moskau während des Zweiten Weltkrieges geschriebenen Erinnerungen identifiziert Krutikov neoromantische und antikapitalistische utopische Narrative, die er als Kritik am real existierenden Stalinismus interpretiert. Allein die vergleichende Lektüre autobiographischer Texte zweier Verfasser, die sich im Gegensatz zum Hauptstrom der jüdischen Migration von West nach Ost aufmachten, verspricht Erkenntnisgewinn. Im Übrigen wird eine alte Erkenntnis der Autobiographieforschung bestätigt, die davon ausgeht, dass der Schreibezeitpunkt für den Aussagegehalt dieser Quellenart von entscheidender Bedeutung ist. Hervorzuheben ist ebenfalls der Artikel des 2007 verstorbenen Londoner Historikers John Klier, eines unermüdlichen Impulsgebers für die vorurteilsfreie Erforschung der aufeinander bezogenen Konfliktgeschichte von Juden und Russen. Klier untersucht eine bisher wenig beachtete Quellengruppe. Er beschreibt die Veränderung des Images des osteuropäischen Juden in der westeuropäischen und nordamerikanischen Presse zwischen 1871 und 1903 anhand der bildlichen Darstellung der Pogromopfer bzw. -flüchtlinge. Dabei betont Klier den interpretierenden Charakter der zunächst zeichnerischen und später fotografischen Repräsentationen der Pogrome. Den Bildquellen antijüdischer Gewaltszenen auf russländischen Straßen werde nicht gerecht, wer sie als adäquate Abbildung des Pogromgeschehens betrachte. Es ist zu bedauern, dass dieser Aufsatz nicht im Rahmen des von Klier noch zu Lebzeiten geplanten und jüngst veröffentlichten Bandes zum Pogrom in der osteuropäischen Geschichte einem englischsprachigen Publikum zugänglich gemacht wurde. Alice Nakhimovski (New York) vergleicht Funktion und Bedeutung einer spezifisch jüdischen Küche für die nordamerikanischen und sowjetischen Juden. Mit dem Auszug aus dem shtetl verloren die religiösen Speisegesetze für beide Gruppen zu großen Teilen an Bedeutung. Während spezifische kulinarische Traditionen in der Sowjetunion allenfalls eine familiäre Bedeutung besaßen, erlangte die osteuropäisch-jüdische Küche etwa in New York den Rang einer lokalen Sehenswürdigkeit. Alla Sokolova (St. Petersburg) ist dem ethnographischen, kunsthistorischen und ästhetischen Interesse polnischer, russischer und jüdischer Reisender für die architektonischen Zeugnisse jüdischer Präsenz im Gebiet der rechtsufrigen Ukraine im ausgehenden Zarenreich auf der Spur.

Alexis Hofmeister, Basel

Zitierweise: Alexis Hofmeister über: Russko-evrejskaja kul’tura. Sbornik statej. [Die russisch-jüdische Kultur. Aufsatzsammlung.] Otv. red. Oleg V. Budnickij. Moskva: Rosspėn, 2006. 495 S., Abb. = Istorija i kul'tura rossijskogo i vostočnoevropejskogo evrejstva. Novye istočniki, novye podchody. ISBN: 5-8243-0806-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Hofmeister_Budnickij_Russko_Evrejskaja_kultura.html (Datum des Seitenbesuchs)

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