Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Peter Hoffmann

 

A Century Mad and Wise. Russia in the Age of the Enlightenment. Papers from IX International Conference of the Study Group on Eighteenth-Century Russia, Leuven 2014. Ed. by Emmanuel Waegemans / Hans von Koningsbrugge / Marcus Levitt / Mikhail Ljustrow. Groningen: Instituut voor Noord- en Oost-Europese Studies, 2015. 526 S. = Baltic Studies, 8. ISBN: 978-90-819568-8-8.

Inhaltsverzeichnis:

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Als Titel für die Konferenz wurde die Sentenz „stoletie bezumno i mudro“ aus Radiščevs Gedicht Das 18. Jahrhundert (Osmnadcatoe stoletie) gewählt, mit dem das Widersprüchliche dieses Jahrhunderts zum Ausdruck gebracht werden sollte. Im Sinne dieses Mottos wird, ich betrachte das als durchaus positiv, das Jahrhundert in seiner ganzen Vielfalt widergespiegelt. Die im reich illustrierten Protokollband veröffentlichten 35 Beiträge sind (nur im Inhaltsverzeichnis) in sechs Themengruppen zusammengefasst; ein Verzeichnis der Autoren mit ausführlichen Angaben zu ihrem Wirken beschließt den Band; ein Register fehlt.

Es werden Beiträge von Autoren aus Belgien, Bulgarien, Frankreich, Deutschland, Italien, Kanada, den Niederlanden, Großbritannien, Russland und den USA in Englisch oder in Russisch (den beiden Konferenzsprachen) veröffentlicht. Bei der Durchführung der Konferenz haben die Universitäten Leuven (Belgien) und Groningen (Niederlande) zusammengearbeitet.

Die „Study Group on Eighteenth-Century Russia“, die diese Konferenz veranstaltet hat, wurde 1968 in Großbritannien von der Historikerin Isabel de Madariaga (1919–2014), dem Literaturwissenschaftler Anthony G. Cross (*1936) und anderen ins Leben gerufen, war also von vornherein interdisziplinär angelegt. Von 1973 bis 2009 wurde ein Newsletter in Papierform herausgegeben, seitdem erfolgt die Information im Internet. Anfangs dominierten englische und US-amerikanische Russlandforscher, dann öffnete man sich für Forscher aus anderen Ländern, was sich in der jüngsten Konferenz deutlich gezeigt hat.

Die Rezension eines derartigen Sammelbandes kann die Beiträge zwar anführen, aber nur in einzelnen Fällen auf sie näher eingehen bzw. zusätzliche Informationen vermitteln, wobei das subjektive Interesse des Rezensenten durchaus von Bedeutung ist.

Die erste Themengruppe Literature umfasst sechs Beiträge. Dem Schaffen von Karamzin sind zwei Beiträge gewidmet (Natal’ja Kočetkova/St. Petersburg, Rodolphe Baudin/Straßburg), wobei der erste Beitrag die widersprüchliche Aufnahme der frühen Schriften Karamzins untersucht, während der zweite die Charakterisierung französischer und englischer Essgewohnheiten in Karamzins Briefen eines russischen Reisenden zum Thema hat. Über die ersten Reaktionen zu Radiščevs Schrift Žitie Fedora Vasil’eviča Ušakova informiert Andrej Kostin (St. Petersburg). Marcus C. Levitt (Los Angeles) widmet seinen Beitrag dem Problem der Allegorie in der von Sumarokov verfassten ersten russischen Oper Cefal i Prokris. Michail Ljustrov (Moskau) sieht Parallelen im Schaffen von Denis Fonvizin und des dänischen Autors Ludvig Holberg, die beide in satirischer Weise extrem gefährliche und völlig harmlose Vorgänge vergleichen. Die Problematik des aufgeklärten Monarchen in der Sicht der Memoiren Katharinas II. analysiert Angelina Vacheva (Sofia).

In der zweiten Themengruppe Society, Economy sind sieben Beiträge eingeordnet. Auch hier sei die Vielfalt der Thematik zumindest angedeutet. Julija Bobrova (Tver’) behandelt die Rolle der Beamtenschaft in der russischen Provinzgesellschaft; Guzel’ Ibneeva (Kazan’) berichtet über die Begegnungen Katharinas II. während ihrer Reisen mit Vertretern der städtischen Stände; Robert E. Jones (Amherst/Massachusetts) hat Kaufmannskapital und Kredit als Thema gewählt. Elena Marasinova (Moskau) fand in der Handschriftenabteilung der Tübinger Universität im Nachlass des deutsch-russischen Historikers Alexander Brückner (1834–1896) anonyme zeitgenössische Tagebuchaufzeichnungen über den Dekabristenaufstand 1825, die sie im Anhang ihres Beitrages veröffentlicht. Der Ausarbeitung des russischen Wechselrechts durch Philipp Heinrich Dilthey (1723–1781) ist der Beitrag von George E. Munro (Richmond/Virginia) gewidmet. Andreas Schönle (London) hat die Poesie von Aleksandr Bakunin (1768–1854), des Vaters des Anarchisten Michail Bakunin, analysiert, in der sich die Entwicklung der Landwirtschaft widerspiegelt und die damit Einblick in sein ökonomisches Denken bietet. Mark A. Soder­strom (Aurora/Illinois) wendet sich den Aufzeichnungen des subalternen sibirischen Beamten Timofej Petrovič Kalašnikov (1762–1828) zu, die als eine wichtige Quelle für die Erforschung der russischen Bürokratie und ihrer sibirischen Variante anzusehen sind.

Zum Themenkomplex Diplomacy werden zwei Beiträge veröffentlicht. Hans van Konings­brugge (Groningen) berichtet anhand von Materialien in niederländischen Archiven über die Haltung Russlands zum vierten englisch-niederländischen Krieg 1780–1784; Michel Bitter (Hawaii) analysiert die Berichte des britischen Botschafters aus Russland zu den Beziehungen zwischen Ostermann und Biron in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts.

Zum Komplex Russian Empire werden vier Beiträge geboten. Sergej Kozlov (St. Petersburg) betrachtet die akademischen Sibirienexpeditionen der sechziger und siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts als internationale Unternehmen. James A. Gibson (Toronto/​Ontario) schildert die Aufnahme der Cook-Expedition auf Kamtschatka 1779 durch den dortigen Gouverneur Magnus von Behm. Janet M. Hartley (London) nennt ihren Beitrag Slawen und ihre Ehefrauen. Russische Siedler und Nichtrussen in Sibirien. Colum Leckey (Pittsburgh/Virginia) berichtet über den Handel in Orenburg mit Zentralasien von 1730 bis in die siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts.

Zehn Beiträge werden unter der Rubrik Ideas, Discourse, Cultural Transfer eingeordnet. Maria Cristina Bragone (Pavia) hat die russische Übersetzung des Kleinen Katechismus Luthers durch Johann Werner Paus (1670–1735) analysiert. Elena Pogosyan (Tartu) widmet der Predigt Gavriil Bužinskijs 1719 zum zehnten Jahrestag der Schlacht von Poltava ihre Aufmerksamkeit; völlig unüblich beginnt diese mit einem Lob auf den antiken Arzt Galen (Claudius Galenus, 2. Jh.) und bietet vielfältige anatomische Hinweise. Michael Schippan (Wolfenbüttel) zeigt auf, dass Michail Ščerbatov in seiner Schrift Putešestvie v zemlju Ofirskuju (1784) die im Alten Testament überlieferte Sage vom idealen Land Ophir aufnimmt, um seine eigene Gesellschaftsutopie darzulegen; dabei nutzte er die anonyme deutsche Schrift Der wohleingerichtete Staat des Königreichs Ophir (1699). Denis Sdvižkov (Moskau) hat den Diskurs zwischen Kirche und Staat zur Problematik von Gesellschaft und Nation zu seinem Thema erwählt. Er vertritt die Ansicht, dass sich bereits im 18. Jahrhundert staatliche und kirchliche Sprache zu trennen beginnen, so dass im 19. Jahrhunderts die orthodoxe Kirche die staatliche Doktrin der Einheit von Orthodoxie, Autokratie und Volkstum nicht übernommen habe; in Russland sei es deshalb bis 1917 nicht zur Herausbildung eines Nationalbewusstseins gekommen. Ingrid Schierle (Tübingen) untersucht die Konzeptionen einer Sozialordnung in Predigten der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Anna Zernova (ihr Name fehlt im Mitarbeiterverzeichnis) analysiert die Stellung des hohen Klerus zur Reform der Provinzialverwaltung 1775. Natalie Bayer (Des Moines/Iowa) und Robert Collis (Helsinki) legen gemeinsam einen Beitrag unter dem Titel Licht aus dem Norden vor, in dem sie den Einfluss der Loge „Das neue Israel“ auf den russischen Adel für die Jahre 1788 bis 1807 untersuchen; dabei gilt ihre besondere Aufmerksamkeit dem Wirken des polnischen Adligen Tadeusz Grabianka (1740–1807) mit dem Beinamen „König des neuen Israel“. Wim Coudenys (Leuven) untersucht die Bedeutung von Übersetzungen für die Entwicklung der russischen Geschichtsschreibung im 18. Jahrhundert, wobei er den Begriff „Übersetzung“ sehr weit als „a complex system of cultural transfers between societiesfasst. Auch sieht er das „Übersetzen“ nicht als Einbahnstraße, sondern beachtet durchaus auch Rückübersetzungen, sieht also diesen Prozess als „Wechselseitigkeit“. Victoria Frede (Berkeley/California) referiert über die Freimaurerei in Russland in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts. Alexander M. Martin (Notre Dame/Indiana) berichtet über zwei aus Holland stammende Einwanderer, Vater Johann Ambrosius (1768–1835) und Sohn Wilhelm Rosenstrauch (1792–1870), die in Russland unter anderem die Invasion Napoleons erlebten, sowie über deren vielfältigen Aktivitäten – Pastor, Barbier, Schauspieler, Kaufmann, Freimaurer usw. Für beide gibt es wenig informative und teilweise fehlerhafte Eintragungen im Russkij biografičeskij slovar’. Auf Grund archivalischer Quellen und einer weit verstreuten Literatur kann der Autor das dort gezeichnete Bild korrigieren und ergänzen.

Die letzte Themengruppe Education, Art and Adventures beginnt mit dem Beitrag von Manfred Schruba (Bochum): Russische Volksbilderbogen – westeuropäische Beispiele und Parallelen. Emmanuel Waegemans (Leuven) untersucht in seinem Beitrag die Bedeutung von Sprichwörtern, echten und von dafür ausgegebenen Gedanken, wie sie Katharina II. mehrfach niedergeschrieben hat. Steven A. Usitalo (Aberdeen) nennt seinen Beitrag Curiosity and the Kunstkamera. Der Autor weist nach, dass mit der Gründung der „Kunstkamera“ in St. Petersburg 1714 eine völlig neue Art, die Umwelt zu sehen, in Russland eingeführt wurde, die durchaus geeignet war, bisherige Vorstellungen in Frage zu stellen. Ekaterina Skvorcova (St. Petersburg) sieht im russischen Porträt des 18. Jahrhunderts eine Form der Machtrepräsentation. Catherina Philips (Glasgow) stellt fest, dass die Praxis Katharinas II., eine Gemäldesammlung nach dem Vorbild anderer europäischer Monarchen sowie des Hochadels aufzubauen, bei mehreren Vertretern des russischen Hofadels Nachahmung gefunden hat. Robert Colis (Helsinki) hat anhand von Anzeigen in der Petersburger und der Moskauer Zeitung nachgewiesen, dass sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch in Russland ganz ähnlich wie in Mittel- und Westeuropa ein Markt für „Wundertäter“ unterschiedlicher Art – für Wunderheiler, Magier, Quacksalber usw. – herausgebildet hat. Als Voraussetzungen sieht er einerseits die Möglichkeit, in der Presse zu annoncieren und damit ein breites Publikum zu erreichen, andererseits die Entwicklung der städtischen Gesellschaft.

Der Band bietet, das sei noch einmal festgestellt, ein breites Spektrum, wobei der Begriff Aufklärung (Enlightenment) sowohl inhaltlich als auch chronologisch nicht eng gesehen ist, denn mehrfach wird die Grenze des 18. Jahrhunderts überschritten.

Wer sich für Geschichte und Kultur Russlands in der Zeit von Absolutismus und Aufklärung interessiert, wird diesen Band aufmerksam zur Kenntnis nehmen, auch wenn nicht alle Beiträge jeden Leser in gleicher Weise ansprechen.

Peter Hoffmann, Nassenheide

Zitierweise: Peter Hoffmann über: A Century Mad and Wise. Russia in the Age of the Enlightenment. Papers from IX International Conference of the Study Group on Eighteenth-Century Russia, Leuven 2014. Ed. by Emmanuel Waegemans, Hans von Koningsbrugge, Marcus Levitt and Mikhail Ljustrow. Groningen: INOS, Instituut voor Midden- en Oost-Europese Studies, 2015. 526 S. = Baltic Studies, 8. ISBN: 978-90-819568-8-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Hoffmann_Waegemans_A_Century_Mad_and_Wise.html (Datum des Seitenbesuchs)

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