Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Edgar Hösch

 

Schlüsseljahre. Zentrale Konstellationen der mittel- und osteuropäischen Geschichte. Festschrift für Helmut Altrichter zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Matthias Stadelmann und Lilia Antipow unter Mitarbeit von Matthias Dornhuber. Stuttgart: Steiner, 2011. 512 S., Tab., Abb. = Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 77. ISBN: 978-3-515-09813-7.

Inhaltsverzeichnis:

http://bvbr.bib-bvb.de:8991/exlibris/aleph/a21_1/apache_media/87F7AABCE335UEXXGGA935SNDVV9XX.pdf

 

Festschriften leiden in der Regel unter dem ausweglosen Dilemma, dass die eingereichten Beiträge sich kaum einem gemeinsamen Themenbereich zuordnen lassen und eine inhaltliche Kohärenz daher schwer zu erreichen ist. Den Herausgebern der Festschrift für den Erlanger Osteuropa-Historiker Helmut Altrichter hat der Jubilar selbst mit seinem erfolgreichen Editionsunternehmen derSchlüsseldokumentezur russischen/sowjetischen bzw. zur deutschen Geschichte das Stichwort für einen praktikablen Ausweg gegeben. Die beteiligten 27 Kolleginnen und Kollegen wurden gebeten, Schlüsseljahre aus ihren Arbeitsgebieten zu benennen und in den jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontext einzuordnen. Das vorliegende Ergebnis bietet dem Leser eine anregende Lektüre mit interessanten Einblicken in aktuelle Forschungsdiskussionen. Die Auswahl der Themen ist auch ein Beleg für den Paradigmenwechsel, der nach den Umbrüchen der neunziger Jahre innerhalb der bundesdeutschen Russlandforschung zu einer Neuorientierung geführt hat.

Die Anordnung der Beiträge richtet sich aus naheliegenden Gründen nach der chronologischen Abfolge der behandelten Ereignisse. Auffallend ist auf den ersten Blick die pointierte Bevorzugung neuzeitlicher und zeitgeschichtlicher Themen. Nur vier Autoren wählten ein Schlüsseljahr aus der Zeit vor 1800 aus, und auch von den 19 Beiträgen, die unmittelbar auf Ost- und Südosteuropa Bezug nehmen, greifen nur zwei mittelalterliche Themen auf. Klaus Herbers befasst sich mit der kirchenpolitischen Richtungsentscheidung der Bulgaren 866 zwischen Ost- und Westkirche und fasst den heutigen Kenntnisstand zum Missionierungsversuch der päpstlichen Kurie aus der westlich-lateinischen Quellenüberlieferung zusammen (866Bulgarien zwischen Ost- und Westkirche, S. 15– 25). Carsten Goehrke zeichnet mit gewohnt souveräner Detailkenntnis die partizipativen und genossenschaftlichen Traditionen des politischen Systems in Altrussland nach und bezieht die neuesten Forschungsergebnisse zum altrussischen veče in die Überlegungen zu gesamteuropäischen Entwicklungstrends und zu den Realisierungschancen eines freiheitlichen Systems in Russland gegenüber dem autoritären Moskauer Machtstaat ein (1478Das Ende einer historischen Alternative für Russland, S. 45–64).

Unübersehbar sind bei der Themenwahl die Auswirkungen des cultural turn. Selbst bei gängigen Jahresdaten, die in den Lehrbüchern Wendepunkte markieren, werden neue, weiterführende Interpretationsmöglichkeiten angeboten. So hinterfragt Nikolaus Katzer die mit den Stichjahren 1812 und 1825 verbundenen ereignisgeschichtlichen Sachverhalte und lenkt den Blick auf das neuartige Lebensgefühl der Dekabristen und hebt die religiöse und national-patriotische Dimension des Dekabrismus hervor (Russland 1812 und 1825. PatriotismusReligionRevolution, S. 117–139). Matthias Stadelmann interpretiert die unmittelbaren Folgen des Zarenmordes von 1881 als eineAusladung der Gesellschaftund alsentscheidende vertane Chance, die russische Gesellschaft rechtzeitig in die Politik des autokratischen Systems zu integrieren(Die Einladung der Gesellschaftund ihre Ausladung. 1881 als Schicksalsjahr in Russlands politischer Geschichte, S. 185–201). In der Habsburger Monarchie ist dagegen schon 1859, wie Georg Seiderer ausführt, die Gegenrichtung eingeschlagen und mit dem Laxenburger Manifest das neoabsolutistische Experiment beendet und  der Weg zum Konstitutionalismus beschritten worden (Aufbruch in den Verfassungsstaat? Das Jahr 1859 als Schlüsseljahr der Habsburgermonarchie, S. 141–153). In Russland sieht Jan Kusber in den Ereignissen von 1905 ein Schlüsseljahr, weil Revolution und Krieg im Inneren unterschiedliche Foren der Öffentlichkeit sprunghaft anwachsen ließen und so die Formierung einer Zivilgesellschaft beschleunigten, während in der globalen Welt sich die Stellung des Zarenreiches radikal verändert hat (Das Jahr 1905 und das Zarenreich: Imperial und global, S. 203– 217). Für das Königreich Polen als Teilbereich des russischen Imperiums bestätigt Malte Rolf diesen Befund eines grundsätzlichen Wandels der politischenOptionen und Präferenzen der zarischen Autoritäten, dieneue Formen der Kohabitation von Staat und Gesellschaftzu akzeptieren lernten (Revolution, Repression und Reform: 1905 im Königreich Polen, S. 219–232).

Für zwei Autorinnen bedeutet das Jahr 1863 in doppelter Hinsicht einen Wendepunkt. Für Beate Fieseler eröffnete Nikolaj G. Černyševskij mit seinem sozialutopischen RomanWas tun?unter der radikalen jungen Generation als Stichwortgeber die Debatte über notwendige gesellschaftliche Veränderungen und über die Zukunft Russlands (1863:Was tun? Aus Erzählungen von neuen Menschenvon Nikolaj Gavrilovič Cernyševskij, S. 155–169). Getrud Pickhan datiert mit dem Austritt von vierzehn Kunststudenten aus der Kaiserlichen Kunstakademie in St. Petersburg im Jahre 1863 und der Gründung der Künstlervereinigung derPeredvižniki1871 die folgenreiche Emanzipation der russischen Kunstszene von staatlicher Bevormundung und einem konservativen Kunstverständnis (Aufstand der Vierzehn. 1863 als Schlüsseljahr für die bildende Kunst in Russland, S. 171–184). Nach der Einschätzung von Trude Maurer zeigten die russischen Universitäten bei der Ausrichtung der staatlich verordneten Jubiläumsfeiern zur Erinnerung an denVaterländischen Kriegvon 1812 und dem 300-jährigen Bestehen der Romanov-Dynastie eine erstaunliche Eigenständigkeit, die kritische Neubewertungen der Ereignisse nicht ausschloss. Im Unterschied zu Deutschland waren allerdings die Studenten nicht einbezogen (Distanz und Selbstbehauptung: Die patriotischen Jubiläen des Studienjahres 1912/13 als Brennspiegel der Gesellschaftsgeschichte russischer Universitäten, S. 233–254). Igor Narskij nähert sich dem Revolutionsjahr 1917 aus der Perspektive der Alltags- und Kulturgeschichte und beschreibt auf zehn Ebenen dieErschütterungen, von denen das Leben des einfachen Mannes nachhaltig betroffen war (Zehn Phänomene, die Russland 1917 erschütterten, S. 255–272). Susanne Schattenberg versteht das Auftreten der sowjetischen Delegationen bei den Friedensverhandlungen in Brest-Litovsk als denUrknall der sowjetischen Diplomatie, der die etablierten westlichen Normen sprengte und schon das ganze Repertoire der Abweichungen von den bisherigen diplomatischen Gepflogenheiten durchspielte, das die späteren Auftritte sowjetischer Diplomaten charakterisierte (1918Die Neuerfindung der Diplomatie und die Friedensverhandlungen in Brest-Litovsk, S. 273–292). Aleksandr Čubarjan sieht im Lavieren Stalins zwischen den sich bietenden machtpolitischen Optionen am Vorabend des Zweiten Weltkrieges keine Revision der bisherigen ideologischen Positionen. Im Zweifelsfall hatten die realpolitischen Interessen Vorrang vor den Vorgaben der internationalistischen Doktrin (Die Sowjetunion anno 1940: Erste Symptome der Ernüchterung oderWechsel der Wegzeichenin Theorie, Ideologie und Propaganda, S. 329350). Andererseits unterschätzte nach Leonid Luks Stalin bei seiner Appeasementpolitik gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland die ideologischen Zwänge, die Hitler zu seinem weltanschaulichen Vernichtungskrieg motivierten (Die UdSSR, Deutschland und der Westen im Schicksalsjahr 1941, S. 351–371). Zur Erklärungen der ambivalenten Beurteilungskriterien, die in der Erinnerungskultur Russlands an die Terrorexzesse des Stalinismus angelegt werden, trägt Jörg Baberowski plausible Argumente vor (Das Beil überlebt seinen Herrn. Das Jahr 1937 und die Erinnerung an die stalinistische Diktatur, S. 313–327). Lilia Antipow belegt, dass während der Kriegsjahre nach der sowjetischen Sprachregelung die Hauptopfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik nicht die Juden, sondern die Sowjetbürger insgesamt waren. Erst während des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses war die Sowjetunion bereit, die historische Dimension des Holocaust anzuerkennen (A frozenturning point 1945/46? Die UdSSR, der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess und der Holocaust, S. 387–411). Auf einen weniger beachteten, für die Sowjetbürger aber ebenso folgenreichen Nebenaspekt der Geheimrede Nikita Chruščevs auf dem 20. Parteitag der KPdSU im Jahre 1956 verweist Thomas M. Bohn. Die Abgrenzung gegenüber den Exzessen des stalinistischen Regimes war verbunden mit neuen Richtlinien zum Umbau der russischen Gesellschaft, die eine Begrenzung des Städtewachstums und die Regulierung der Landflucht und der unkontrollierten Migrationsströme vorsahen (Die Abschottung der Städte im Jahre 1956: Sowjetische Geschichte als Urbanisierungsgeschichte, S. 413–421). Auf der Suche nach den Ursachen für den Untergang der Sowjetunion führt Klaus Gestwa den Begriff der Sicherheit als Analysekategorie ein. Demnach waren die Reformen der Perestrojka nicht der Anlass der Finalitätskrise, sondernder verzweifelte, letztlich fehlgeschlagene Versuch, ihr zu entkommen(Sicherheit in der Sowjetunion 1988/89. Perestrojka als missglückter Tanz auf dem zivilisatorischen Vulkan, S. 449–467).

Den engeren Rahmen der Russlandforschung verlässt Dietmar Neutatz, der den unerwartet klaren Wahlerfolg Henleins und den dramatischen Absturz der etablierten sudetendeutschen Parteien bei den Wahlen 1935 in der Tschechoslowakei analysiert. Den Schlüssel zum Erfolg sieht er in dem von Henlein konsequent verfolgten Diskurs von Einheit und Geschlossenheit, der den Zusammenhalt einer Volksgemeinschaft über Parteigrenzen hinweg beschwor (Der Wahlsieg der Sudetendeutschen Partei 1935 und die Macht der Diskurse, S. 293311). Eduard Winkler erinnert an die Mitbegründer der Europäischen Föderalistischen Bewegung (Movimento Federalista Europeo, MFE) unter den italienischen Antifaschisten, deren Ideen imManifest von Ventotenenachzulesen sind. Ihre damaligen Überlegungen könnten für eine künftige Lösung der Jugoslawien-Frage nutzbar gemacht werden (Kriegswende und Friedensvisionen 1943: Antifaschismus und föderale Ideen für Europa und Jugoslawien, S. 373–386).

Themen der allgemeinen Geschichte werden von Kollegen vornehmlich aus dem engeren Umfeld der historischen Institute an der Universität Erlangen-Nürnberg und von Weggefährten Altrichters in wissenschaftlichen Gremien behandelt. Dazu zählen Ausführungen zur Bedeutung der Goldenen Bulle (Helmut Heuhaus) und zum Augsburger Religionsfrieden (Axel Gotthard) und die Überlegungen von Werner K. Blessing und Wolfgang Wüst zum Ende des Alten Reiches aus regionaler, d.i. fränkischer und bayerischer Perspektive. Walter L. Bernecker erläutert die Hintergründe des Beitritts Spaniens zur Europäischen Gemeinschaft und Horst Möller befasst sich mit den Dimensionen des Epochenwechsels von 1989/91. Über Möglichkeiten und Grenzen einer Retrodigitalisierung archivalischen Schriftguts und dessen Bereitstellung im Internet referiert abschließend der Präsident des Bundesarchivs Hartmut Weber. In seinen Ausführungen zieht er eine Zwischenbilanz zu dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft initiierten Projekt derVerteilten Digitalen Forschungsbibliothek, zu dem er und Helmut Altrichter als die Leiter zweier Facharbeitsgruppen des Bibliotheksausschusses seit 1996 die Empfehlungen ausgearbeitet haben (Digitales Archivgut als Ressource für Forschung und Lehre, S. 481–498). Im Anhang des Bandes findet sich ein Verzeichnis ausgewählter Schriften des Jubilars (S. 505–512).

Edgar Hösch, Würzburg

Zitierweise: Edgar Hösch über: Schlüsseljahre. Zentrale Konstellationen der mittel- und osteuropäischen Geschichte. Festschrift für Helmut Altrichter zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Matthias Stadelmann und Lilia Antipow unter Mitarbeit von Matthias Dornhuber. Stuttgart: Steiner, 2011. 512 S., Tab., Abb. = Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 77. ISBN: 978-3-515-09813-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Hoesch_Stadelmann_Schluesseljahre.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2014 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Edgar Hösch. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.