Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Andreas Hilger

 

Ljudmila V. Micheeva: Inostrannye voennoplennye i internirovannye vtoroj mirovoj vojny v Centralnom Kazachstane (1941 – načalo 1950-ch gg.) [Ausländische Kriegsgefangene und Internierte des Zweiten Weltkriegs in Zentralkasachstan (1941 bis Anfang der 1950er Jahre)]. Karaganda: Izdat. CKU MGTI – Lingva, 2010.  207 S., 22 Abb. ISBN: 978-601-06-0565-7.

Im Laufe des Zweiten Weltkriegs gerieten über vier Millionen Soldaten in sowjetische Kriegsgefangenschaft, darunter rund 2,4 Millionen deutsche und 640.000 japanische Soldaten. Die sowjetische Politik sah in den Gefangenen zusätzliche Arbeitskräfte, die in und nach dem Krieg dringend gebraucht wurden. Darüber hinaus setzte sich die UdSSR zum Ziel, die gefangenen Feinde politisch umzuerziehen. Die Verfolgung von Kriegsverbrechern sowie von Gefangenen, die die sowjetischen wirtschaftlichen und politischen Ziele zu sabotieren schienen, machte schließlich den dritten Hauptpunkt sowjetischer Kriegsgefangenenpolitik ab 1939 aus. Seit den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat die internationale Forschung diese Grundaspekte insbesondere auf der Basis zentraler Aktenbestände in Moskau herausarbeiten können. Der Wert ergänzender Regionalstudien besteht unter anderem darin, dass sie aufzeigen, wie die zentralen Vorgaben auf unterschiedliche regionale Grundkonstellationen heruntergebrochen wurden. Damit lässt sich die Widersprüchlichkeit sowjetischer Kernziele schärfer fassen und das Innenleben der zuständigen Administrationen genauer ausleuchten. Auf diese Weise tragen Regionalstudien wesentlich dazu bei, die Funktionsmechanismen stalinistischer Herrschaft zu ergründen. Auf der anderen Seite können derartige Detailstudien die Lebenswirklichkeit der Gefangenen selbst, ihre Kontakte zur lokalen Einwohnerschaft oder Beziehungen zwischen verschiedenen nationalen Gefangenengruppen beschreiben und somit das Verständnis der Geschichte der betroffenen Kriegs- und Nachkriegsgesellschaften erweitern.

In den letzten Jahren haben sich vor allem russische und ukrainische Forscher an entsprechenden Regionalstudien versucht. Micheeva schlägt mit ihrer Arbeit über die Republik Kazachstan, dieweit abgeschlagen hinter Russland und der Ukraine und nahezu gleichauf mit Weißrusslanddas dritt- bis viertgrößte Kontingent der ausländischen Gefangenen in ihren Lagern aufnahm, eine erste regionalgeschichtliche Schneise in Zentralasien. Wie in der gesamten UdSSR, so nahmen auch in Zentralkazachstan Kriegsgefangenenzahlen sowie Organisation und Tätigkeit der Kriegsgefangenenverwaltung UPVI/GUPVI erst gegen Kriegsmitte hin relevante Ausmaße an. Der Ableger der Moskauer Zentralverwaltung für Kriegsgefangene und Internierte auf Republikebene wurde 1943 aufgebaut. Das UPVI-Lager Nr. 99, Spasskij, entwickelte sich nach seiner Gründung 1941 ab 1944 zum größten und wichtigsten Kriegsgefangenenlager in der Region. Die Belegung spiegelt globale Dimensionen des Kriegs ebenso wider wie die Abnormitäten stalinistischer Politik: Zu Spitzenzeiten 1945/1946 zählte die Verwaltung in ihren einzelnen Lagern nahezu 15.000 deutsche und rund 12.000 japanische Kriegsgefangene. Unter rund 1000 Zivilisten, die nach dem deutschen Überfall auf die UdSSR interniert wurden, machten wiederum deutsche Juden einen erheblichen Anteil aus. Insgesamt sind die Belegungsstatistiken für die Lager äußerst lückenhaft, so dass Micheeva keine verlässliche Gesamtzahl für Kriegsgefangene und Internierte auf kazachischem Boden nennen kann.

Micheeva stellt heraus, dass in Zentralkazachstan dem Arbeitseinsatz der Gefangenen absolute Priorität zukam. Die Kriegsgefangenenlager wurden allesamt auf Basis ehemaliger Abteilungen des GULag eingerichtet. Sie waren vielfach Großunternehmen des sowjetischen Kohlebergbaus zugeordnet. Dass Kriegsgefangene zu verschiedenen Zeitpunkten in diesen Unternehmen und Schächten 20 bis 30 Prozent der gesamten Arbeiterschaft stellten, verweist zugleich auf die katastrophale Wirtschaftslage der UdSSR in den vierziger Jahren zurück. Wie in anderen Wirtschaftsbereichen, so waren auch in der Kohleindustrie weder Arbeitgeber noch Lagerverwalter auf den immensen Zustrom der neuen gefangenen Arbeitskräfte vorbereitet. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen, die vor allem im Krieg große Opfer forderten, blieben bis zum Ende der vierziger Jahre schwierig. Micheeva beziffert die Sterblichkeit der Kriegsgefangenen im Lager Spasskij auf insgesamt rund elf Prozent. Die Grabstätten der Verstorbenen verfielen in aller Regel. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR konnte sich auch in Kazachstan eine Kultur des grenzüberschreitenden Gedenkens an die verstorbenen Gefangenen entwickeln. Im Übrigen wurde 2004 auch ein Denkmal für die sowjetischen Opfer der gesamten Lagerregion eingeweiht. Zu diesem Zeitpunkt existierten bereits Erinnerungsorte für die früheren japanischen, polnischen, deutschen, rumänischen, finnischen oder italienischen Kriegsgefangenendiese prekäre Reihenfolge beleuchtet schlagartig die Problematik des post-sowjetischen Umgangs mit dem ambivalenten Erbe von Sieg und Terror. Im Gegensatz zum Umgang der UdSSR Stalins mit der eigenen Bevölkerung, so das bezeichnendedrastisch verkürzende und etwas problematischeFazit Micheevas, stellte sich die Behandlung ehemaliger Angehöriger der gegnerischen Streitkräfte durch das Regime geradezu alsAkt der Humanitätdar (S. 155).

Insgesamt deutet Micheevas Studie die eingangs zitierten Chancen eines regionalen, differenzierten Zugriffs in vielem nur an. Fragen der politischen Schulung sind weitgehend, der Komplex der Verurteilungen von Kriegsgefangenen sowie ihr Aufenthalt in den Straflagern der Region gänzlich ausgeklammert. Micheeva referiert für die verbliebenen Themen oftmals die Befunde der Forschung zur allgemeinen Kriegsgefangenenpolitik Moskaus. Dabei beschränkt sie sich leider im Wesentlichen auf die Rezeption russischer bzw. russischsprachiger Publikationen. Die Monografie führt vor Augen, dass regionale Archive die mitunter disparate Akten- und Überlieferungslage des Zentrums nicht zwangsläufig verbessern. Micheeva, die als Archivarin im Staatsarchiv der Oblast Karaganda über hervorragende Kenntnisse der unmittelbaren Quellenlandschaft verfügt, kann aufgrund zahlreicher Überlieferungslücken oder aktueller Zugangsrestriktionen keine detaillierte Rekonstruktion der Lagergeschichten leisten. Sie hat jedoch eine wichtige Grundlage geschaffen, auf der sich die eingangs erwähnten Fragestellungen weiter verfolgen lassen. Von besonderem Interesse wird hier die Verzahnung von Kriegsgefangenenverwaltung und GULAG sowie die detaillierte Erfassung der verschiedenen Gruppen von Kriegsgefangenen und Internierten in der Sowjetunion der vierziger und fünfziger Jahre sein.

Andreas Hilger, Hamburg

Zitierweise: Andreas Hilger über: Ljudmila V. Micheeva: Inostrannye voennoplennye i internirovannye vtoroj mirovoj vojny v Central’nom Kazachstane (1941 – načalo 1950-ch gg.) [Ausländische Kriegsgefangene und Internierte des Zweiten Weltkriegs in Zentralkasachstan (1941 bis Anfang der 1950er Jahre)]. Karaganda: Izdat. CKU MGTI – Lingva, 2010. 207 S., 22 Abb. ISBN: 978-601-06-0565-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Hilger_Micheeva_Inostrannye_voennoplennye.html (Datum des Seitenbesuchs)

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