Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 1 (2011), 3 Rezensionen online

Verfasst von: Andreas Hilger

 

Hitlers Sklaven – Stalins „Verräter“. Aspekte der Repression an Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen. Eine Zwischenbilanz. Hrsg. von Peter Ruggenthaler und Walter M. Iber unter Mitarbeit von Dieter Bacher. Innsbruck, Wien, Bozen: Studienverlag, 2010. 382 S., 39 Abb., Tab. = Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, 14. ISBN: 978-3-7065-4869-4.

Die Repatriierung sowjetischer Kriegsgefangener und Zwangsarbeiter in ihre Heimat war in der sowjetischen Forschung immer ein Tabuthema. Die westliche Historiographie nahm sich der Thematik im Kalten Krieg nicht wesentlich engagierter an. In Deutsch­land widmete man sich lange Zeit vorrangig den eigenen Opfern des Kriegs. Im westlichen Ausland mochte die Geschichte der Repatriierungen immer auch ungeliebte Erinnerungen an die eigene Kooperation mit der UdSSR wecken. Der Umbruch der 1990er Jahre hat zwar nicht zu einem wahren Forschungsboom geführt. Es sind jedoch einige gute, fundierte Spezialstudien erschienen. Diese haben herausgearbeitet, dass die Repatriierungen von Millionen sowjetischen Bürgern einen wichtigen Bestandteil internationaler, genauer: der alliierten Kriegs- und Nachkriegspolitik darstellten und zur Entfremdung der Siegermächte voneinander beitrugen. Das hing natürlich eng damit zusammen, dass die sowjetische Repatriierungspolitik ein integraler Bestandteil der Restalinisierung der UdSSR war.

Der vorliegende Band, der leider relativ spät aus einer Tagung an der Universität Graz im Dezember 2006 hervorging, greift beide Perspektiven auf. Am Beispiel Österreichs zeigt sich die enge Verbindung von Repatriierungsdebatten mit allgemeinen Problemen der alliierten Zusammenarbeit. In der Ostmark waren gegen Kriegsende rund eine Million ausländischer Arbeitskräfte eingesetzt, davon ein Viertel sowjetische Bürger (S. 11f) Sie galten den Moskauer Sicherheitsdiensten frühzeitig als anfällig für Anwerbungen durch, wie es Anfang 1946 noch hieß, „verbündete Geheimdienste“. (S. 85) Auf der Sitzung des Rats der Außenminister in London 1946 illustrierten Ausführungen Molotovs die spezifische Verknüpfung von Repatriierungsstreitigkeiten und Kaltem Krieg. Die rund 437.000 in Österreich verbliebenen DP’s setzten sich aus Moskauer Sicht in ihrer Mehrheit aus Kollaborateuren und Kriegsverbrechern zusammen. Ihr Verbleib in Österreich stelle „eine ernste Bedrohung nicht nur für die innere Sicherheit des demokratischen Österreichs, sondern auch eine Gefahr für die demokratischen Nachbarstaaten dar“ (S. 257). Eine direkte Verbindung zwischen der Repatriierungspolitik und dem späten Abschluss des Staatsvertrags lässt sich nicht nachweisen (S. 277f). Staaten wie Schweden und Frankreich haben ihre Kooperation mit der UdSSR in Repatriierungsfragen deutlicher auf nationale Interessen abgestimmt (S. 121 f., 128 f.).

Ausführlicher als auf die internationalen Aspekte geht der Sammelband auf die Repatriierungspolitik als spezifischen Ausdruck stalinistischer Innen- und Gesellschaftspolitik ein. Am Beispiel baltischer Repatrianten werfen die Herausgeber die Frage auf, ob „die Repatriierungs- und Umsiedlungsorgane auch ein Mittel der Russifizierung“ gewesen seien (S. 16). Umgekehrt stellt sich der Widerstand gegen die Zwangsrepatriierung als Ergebnis einer Mischung von antikommunistischer Einstellung und nationaler Selbstbehauptung dar. Von über 400.000 „Evakuierten und Flüchtlingen (Zivilisten) und Militärangehörigen aus dem Baltikum“ blieben nach Mai 1945 etwa 230.000 Personen in Westdeutschland (S. 54). Die geschichtspolitische Brisanz und tagesaktuelle Instrumentalisierbarkeit des Themas wird im Beitrag von Kristina Burinskaitė besonders deutlich, die Repressionen der „sowjetischen Besatzungsmacht“ bis 1991 als Teil eines Masterplans zum „vorsätzlichen und geplanten Genozid am litauischen Volk“ missdeutet (S. 160f).

Eine eindeutiges oder umfassendes Bild der sowjetischen Repatriierungspolitik gegenüber verschiedenen nationalen Gruppen können die Beiträge nicht liefern. Die entsprechenden Forschungen zur Behandlung baltischer, kaukasischer, ukrainischer oder weißrussischer Kriegsgefangener und DPs stehen zum Teil erst am Anfang. Es zeichnen sich schon jetzt einige Überlieferungslücken ab, die durch neu erschlossene Archivbestände nur teilweise aufgewogen werden können. Wie in anderen Bereichen sowjetischer Repressionspolitik, so ist es bereits äußerst schwierig, die Zahl der Betroffenen genau zu bestimmen. Die verschiedenen Überlieferungen sind kaum in Einklang zu bringen. Die ausdifferenzierte Kontextualisierung sowjetischer Repatriierungspolitik eröffnet indes ein wichtiges Forschungsfeld. Im übrigen lässt die reiche Illustrierung des Bandes mit zeitgenössischen Fotografien und Propagandamaterial die Frage aufkommen, ob diese Bildquellen im Rahmen einer solchen Publikation nicht eine eigenständige Analyse verdient gehabt hätten.

Im Einzelnen enthält der Band einen knappen Abriss über die deutsche Kriegspolitik gegenüber sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern sowie einen informativen Überblick über Mechanismen und Instrumente der sowjetischen Repatriierungspolitik bis Anfang der 1960er Jahre. Vor diesem Hintergrund informieren die Artikel zu einzelnen Republiken als eine Art Zwischenbilanz über quantitative Dimensionen und chronologische Entwicklung der Rückführungen. Die regionale Aufgliederung macht deutlich, dass die andauernde Benachteiligung von Heimkehrern aus deutscher Gefangenschaft ein gesamtsowjetisches Phänomen war, das alle Nationalitäten betraf. Im weiteren Verlauf der Forschungen wird erst noch zu klären sein, inwieweit gezielte Verfolgungen in einzelnen Republiken größeren Umfang annahmen oder von längerer Dauer waren, als in anderen Teilen der UdSSR.

Auszüge aus den Erinnerungen von drei ehemaligen Kriegsgefangenen bzw. Zwangsarbeiterinnen beschließen den Band. Unter diesen sticht die Erzählung von Nadežda P. hervor, die eindringlich ihre komplexe Geschichte von Deportation und Heimkehr erzählt (S. 319329). Auf wenigen Seiten werden Handlungsspielräume deutscher Arbeitgeber und russischer „Ostarbeiter“ vor Augen geführt. Frau P. rückt individuelle Motivationen und Perspektiven der Akteure in den Vordergrund. Sie lassen erahnen, dass dieser Zugriff auch die Diskussion um nationale Dimensionen Moskauer Repatriierungspolitik bereichern kann. Frau P. erinnert an die ethnische Hierarchisierung der Zwangsarbeiter durch deutsche Stellen, die nicht ohne Folgen für die sowjetische Einstellung zu unterschiedlichen Gruppen blieb (S. 321f). Letztlich verhielt sich die UdSSR gegenüber allen ehemaligen Opfern des Dritten Reichs wie eine „Stiefmutter“ (S. 319) – die innere Ausdifferenzierung dieser Grundlinie der sowjetischen Politik gegenüber einzelnen nationalen Gruppen ist eine wichtige Forschungsfrage, die der Band mit Nachdruck auf die Tagesordnung gesetzt hat.

Andreas Hilger, Hamburg

Zitierweise: Andreas Hilger über: Hitlers Sklaven – Stalins „Verräter“. Aspekte der Repression an Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen. Eine Zwischenbilanz. Hrsg. von Peter Ruggenthaler und Walter M. Iber unter Mitarbeit von Dieter Bacher. Innsbruck, Wien, Bozen: Studienverlag, 2010. Tab. = Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, 14. ISBN: 978-3-7065-4869-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Hilger_Hitlers_Sklaven_Stalins_Verraeter.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2011 by Osteuropa-Institut Regensburg and Andreas Hilger. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact redaktion@osteuropa-institut.de