Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Andreas Hilger

 

Deutschland – Russland. Stationen gemeinsamer Geschichte – Orte der Erinnerung. Band 3: Das 20. Jahrhundert. Hrsg. von Helmut Altrichter / Wiktor Isch­tschenko / Horst Möller / Alexander Tschubarjan. München: Oldenbourg, 2014. 352 S., zahlr. Abb. ISBN: 978-3-486-75524-4.

Die Gemeinsame Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen legt mit diesem Band das erste Ergebnis ihrer Bemühungen um eine so weit wie möglich einvernehmliche Darstellung dieser Beziehungen vor. Die Ausarbeitungen richten sich an ein breiteres Publikum: an Schüler, Studierende und an den klassischen, allgemein geschichtlich interessierten Leser. Der Charakter eines Studien- und Einführungswerks wird durch den Abdruck einzelner – überzeugend ausgewählter – Quellen, die knappen weiterführenden Literaturangaben sowie durch zahlreiche aussagekräftige Illustrationen und eine nützliche Zeittafel unterstrichen. Alle Einzelbeiträge entstammen der Feder ausgewiesener Kenner der Materie. Sie sind mit Erfolg um eine dichte Präsentation von Fakten und Entwicklungen bemüht, ohne dass interpretatorische Akzentsetzungen vernachlässigt würden.

Insgesamt wird das auf drei Bände angelegte Gesamtprojekt die Zeit vom 18. bis zum 20. Jahrhundert abdecken. Dass die Kommission mit dem Band zum 20. Jahrhundert beginnt, begründet sie mit der „besonderen Aktualität“ und der „gesellschaftlich-politischen Bedeutung des vergangenen Jahrhunderts“ (S. 10). Die jüngsten Entwicklungen in der Ukraine verleihen dieser Sichtweise zusätzliche Überzeugungskraft, denn auf beiden Seiten des laufenden Propagandakriegs hallen frühere Denkweisen und Reaktionsmuster nach. Das Argument, dass 1939 der sowjetische Einmarsch in Ostpolen dem Schutz und der Befreiung der ukrainischen respektive weißrussischen Bevölkerung gedient habe, scheint auch für heutige russische wissenschaftliche und politische Analysten noch zu stechen (S. 135–136) und erinnert an diverse russische Verlautbarungen. Anti-polnische Dimensionen der sowjetischen Außenpolitik des 20. Jahrhunderts, die die historische Kommissionsarbeit in den Blick rückt, mögen in der besonderen Sensibilität Warschaus gegenüber den heutigen russischen Aktivitäten nachwirken. Generell zeigen die historischen Hintergründe und die aktuellen Entwicklungen, dass die deutsch-russischen Beziehungen trotz des Endes des Kalten Kriegs nicht außerhalb eines breiten internationalen Kontextes analysiert werden können. Darüber hinaus lässt sich die Geschichte ungeachtet der überwundenen Teilung Deutschlands keineswegs als teleologische Erfolgs- oder rundum gelungene Versöhnungsgeschichte auffassen. Davon zeugen, um zum Band zurückzukommen, nicht zuletzt die divergierenden Sichtweisen auf zentrale Abschnitte der komplexen Beziehungsgeschichte.

Das Buch ist in vier chronologisch definierte Hauptteile untergliedert. Sie nehmen Grundentwicklungen der Zwischenkriegszeit, von NS-Regime und Stalinismus, von Kaltem Krieg und Entspannungspolitik auf. Auf diese Weise organisiert sich der Band nach „Ereignisknoten“ (S. 10) und weniger entlang den im Untertitel genannten „Erinnerungsorten“. Neben dem deutlich politischen Fokus des Gesamtwerks werden gesellschaftliche und kulturelle Kontakte mit ihren spezifischen Verwerfungen respektive Bruchlinien als weitere wesentliche Sphären der Beziehungsgeschichte nicht außer Acht gelassen. Zu Entwicklungen der wirtschaftlichen oder, im Falle der DDR, militärischen Verbindungen findet sich dagegen kein selbständiger Beitrag. In dem Buch macht sich insbesondere für die Jahre ab 1962 im politischen Dreieck Moskau – Bonn – Ostberlin ein tendenzielles Übergewicht der Beschreibung der sowjetisch-bundesdeutschen Beziehungen bemerkbar. Was einer der Autoren als Mangel verzeichnet (S. 267), spiegelt allerdings auch schlicht die asynchrone Entwicklung der Kontakte Moskaus zu den deutschen Staaten mit ihren unterschiedlichen Handlungsspielräumen und ihrem differierenden Stellenwert in der sowjetischen Globalpolitik wider.

Insgesamt führt die Publikation vor Augen, dass es kein einheitliches, grenzüberschreitendes Bild auf die Gesamtgeschichte des 20. Jahrhunderts gibt. Die Mehrheit der abgedruckten Artikel referiert einen einvernehmlichen, internationalen Forschungsstand, doch werden in dem Werk eben auch gegensätzliche oder abweichende Interpretationen und Bewertungen klar benannt. Dies gelingt nicht immer so nüchtern-sachlich wie in der Einführung von Helmut Altrichter, der Forschungskontroversen als das vorstellt, was sie sein sollten, nämlich als wissenschaftliche Diskrepanzen (S. 173–179). Einzelne Autoren tun sich schwerer, im Zusammenspiel von nationaler Geschichtspolitik, Selbst- und Fremdbildern und internationalen Wissenschaftstendenzen und Forschungsdebatten in der Fachdiskussion die verschiedenen Komponenten auszubalancieren.

Sechs der insgesamt 20 diskutierten Themen und Prozesse sowie die Einführungen der vier Hauptteile wurden von deutscher und russischer Seite getrennt aufgearbeitet. Darüber hinaus liefert der russische Ko-Autor Aleksej Filitov, der auch der Verfasser des russischen Beitrags über die erste Berlin-Krise 1948/49 ist, in einem weiteren zentralen Aufsatz, dem über die Potsdamer Konferenz, ein partielles Sondervotum ab. Seine Ausführungen unterstreichen, dass die Tücken der Diskussion auch im Detail liegen können. (S. 170–172)

Es spricht für die wissenschaftliche Qualität des Bandes, dass in den Beschreibungen auch unterschiedliche Akzentsetzungen innerhalb der deutschen und russischen Zünfte zutage treten. Ohnehin muss es bei derartig ambitionierten Gemeinschaftsprojekten offen bleiben, inwieweit die versammelte Autorenschaft überhaupt den Anspruch erheben will und kann, einen – in sich problematischen – nationalen Geschichtskonsens zu repräsentieren.

Die Schwerpunkte der dokumentierten Divergenzen liegen im Umfeld des Zweiten Weltkriegs sowie bei der Entstehung der bipolaren Welt. Dahinter stehen – in gewissem Maß politisch aufgeladene – Meinungsunterschiede hinsichtlich der Verantwortlichkeiten für die verheerenden internationalen Entwicklungen ab den dreißiger Jahren. Dabei war zu erwarten, dass die Ansichten etwa über den Hitler-Stalin-Pakt von 1939 oder den 17. Juni 1953 in Russland und Deutschland auseinandergehen. Doch auch die Schlacht um Stalingrad 1942/1943 oder die deutschen und sowjetischen Selbstrepräsentationen auf der Pariser Weltausstellung von 1937 lassen sich offenbar noch heute nicht in einem gemeinsamen Zugriff deuten.

Ungeachtet der erwähnten Schwerpunkte sind für andere Zeitabschnitte ebenfalls interpretatorische Gegensätze zu vermerken. Das gilt etwa für die Akzentuierung gesamteuropäischer oder nationalstaatlicher Rahmenbedingungen und Handlungsmöglichkeiten, unter denen sich die innenpolitischen Prozesse ab den zwanziger Jahren entwickelten. Mit dem Einstieg in die dreißiger Jahre werden die deutsch-russischen Differenzen, wie erwähnt, deutlicher und schärfer formuliert. Russische Autoren betonen eine von der internationalen Entwicklung gleichsam erzwungene, defensive Ausrichtung der Außenpolitik Stalins, während die nicht-russische Lesart expansive Tendenzen Moskaus stärker gewichtet. Dies sind Gegensätze, die in der Diskussion um den Hitler-Stalin-Pakt besonders deutlich aufeinander prallen (S. 121–140). Daneben lassen die russischen Autoren ihren Stolz auf die - von keiner Seite bestrittenen – Kriegsleistungen von Volk und Armee der UdSSR erkennen, der für ein kritisch-wissenschaftliches Lesepublikum außerhalb Russlands wiederum gewöhnungsbedürftig ist (S. 84, 151–160). In dem Gesamtpaket wird nachvollziehbar, warum aktuelle Forschungen aus Deutschland und Russland die Pariser Weltausstellung ungleich bewerten. Hier betont Robert Maier den politischen und ideologisch-aggressiven Aussagegehalt sowohl der deutschen als auch der sowjetischen Architektur und Aufmachung. Jekaterina Granzewa bettet wiederum vor allem die sowjetische Präsentation in allgemeine Kunsttendenzen der Ära ein und schreibt dem „wahrhaftigen Kunstwerk“ eine universal-humanistisch Ausdruckskraft zu, die jenseits aller ideologischen Vorgaben der sowjetischen Führung ihren Stellenwert besitze (S. 110).

Hinsichtlich der Teilung Deutschlands als einem wichtigen Aspekt der Entstehung des Kalten Kriegs und dem zweiten großen umstrittenen Fragenkomplex wiederholen die Autoren ebenfalls letztlich bekannte Argumente der etablierten Forschung. Die russische Lesart rückt defensive Sicherheitskonzepte Moskaus und die hohe Mitverantwortung westlicher Politik in den Vordergrund, deutsche Interpretationen verweisen auf zumindest implizite Sowjetisierungsabsichten Stalins. Diesem konkurrierenden Zugang entsprechen Diskrepanzen in der Bewertung der Rolle westlicher Geheimdienste und Propagandaapparate beim Volksaufstand vom 17. Juni 1953.

Deutsche und russische Forschungen zum Auf und Ab der Entspannungspolitik ab den siebziger Jahren erweisen sich als kompatibel. In der Bewertung von Politik und Persönlichkeit Gorbatschows werden dann jedoch wieder sehr unterschiedliche Aspekte betont: Für die im Band vertretene Forschung Russlands spielt die Erfahrung des Auseinanderbrechens des eigenen früheren Staats eine spürbare Rolle (S. 315). In der Beschreibung des Falls, oder, wie es hier heißt, der „Öffnung“ der Berliner Mauer finden sich russische und deutsche Forschungsstränge im Abschluss wieder versöhnlich zusammen. Dass die deutsche Einheit, der deutsch-sowjetische Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und gute Zusammenarbeit vom November 1990 und die Pariser Charta vom November 1990 qualitativ neue Chancen von internationaler und deutsch-sowjetischer Zusammenarbeit eröffneten, ist unbestreitbar. Ebenso unstrittig ist allerdings, dass die deutsch-russischen Beziehungen in ihrer internationalen Einbettung und vor dem Hintergrund der Lasten des 20. Jahrhunderts für Störungen aller Art extrem anfällig geblieben sind. Es wird sich erst noch zeigen müssen, als wie einschneidend sich die von der Gemeinsamen Kommission gewählte Zäsur der Beziehungen, 1989/90, tatsächlich erweist.

Andreas Hilger, Hamburg

Zitierweise: Andreas Hilger über: Deutschland – Russland. Stationen gemeinsamer Geschichte – Orte der Erinnerung. Band 3: Das 20. Jahrhundert. Hrsg. von Helmut Altrichter / Wiktor Isch­tschenko / Horst Möller / Alexander Tschubarjan. München: Oldenbourg, 2014. 352 S., zahlr. Abb. ISBN: 978-3-486-75524-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Hilger_Altrichter_Deutschland_Russland_3.html (Datum des Seitenbesuchs)

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