Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 1 (2011), 2 Rezensionen online

Verfasst von: Anke Hilbrenner

 

Victor Dönninghaus: Minderheiten in Bedrängnis. Sowjetische Politik gegenüber Deutschen, Polen und anderen Diaspora-Nationalitäten 1917–1938. München: Oldenbourg, 2009. 693 S., Tab., Abb. = Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 35). ISBN: 978-3-486-58872-9.

Zur sowjetischen Nationalitätenpolitik sind in den letzten Jahren wichtige Arbeiten erschienen. Einige haben die Politik gegenüber den nationalen Minderheiten vor allem in den zwanziger Jahren einer positiven Neubewertung unterzogen. So bezeichnete Terry Martin die Sowjetunion als „Affirmative Action Empire“ und Yuri Slez­kine wollte staatliche Förderung von ethnischem Partikularismus erkennen. Diese Einschätzungen blieben nicht unumstritten, und in dem vielstimmigen Diskurs über die sowjetische Politik gegenüber ihren nationalen Minderheiten nimmt Victor Dönninghaus eine Position ein, die von Martins und Slezkines optimistischer Einschätzung abweicht.

Dönninghaus’ Beitrag zur Erforschung der sowjetischen Nationalitätenpolitik leitet sich aus der Untersuchung der „nationalen Minderheiten des Westens (Deutsche, Polen, Letten, Litauer, Esten, Finnen u.a.)“ (S. 14) ab, wobei die Deutschen qualitativ und quantitativ im Mittelpunkt der Untersuchung stehen. Es handelt sich recht eigentlich um eine Untersuchung der sowjetischen Politik gegenüber der deutschen Minderheit im Kontext der Politik gegenüber den westlichen Minderheiten. Diese Einbettung ist überzeugend und erhellend, allerdings muss der Leser, der ausgehend vom Titel eine Untersuchung der westlichen Minderheiten erwartet, an dieser Stelle seine Erwartungen reduzieren.

Die sehr ausführliche Untersuchung ist in vier große Kapitel gegliedert. Im ersten Teil wird die Konzeption der Nationalitätenpolitik der Bolschewiki erläutert. Dabei unterstreicht Dönninghaus vor allem den zentralistischen Charakter der Leninschen Staatsidee und führt aus, dass die Idee nationaler Autonomien sowie der föderative Staatsaufbau Zugeständnisse an politische Notwendigkeiten waren, die keine Entsprechung innerhalb der bolschewistischen Ideologie hatten. Der Ideologie folgend war die Nationalitätenproblematik vielmehr ein ephemeres Problem, das keine langfristigen Strukturen erforderte. Diese konzeptionelle Unwucht führte zu Unstimmigkeiten in der Politik. So wurden die Nationalitäten aus pragmatischen Gründen sehr unterschiedlich behandelt. Die Titularnationen der Sowjetrepubliken waren im Rahmen des national-staatlichen Aufbaus der UdSSR privilegiert, während die nationalen Minderheiten, die über kein eigenes Territorium verfügten, benachteiligt waren. Durch diese Ambivalenz schlich sich auch das Konzept der „national-kulturellen Autonomie“, das von den Bolschewiki, vor allem vom Volkskommissar für Nationalitäten Stalin, strikt abgelehnt wurde, in die praktische Politik gegenüber den Minderheiten ein. Die politische Verantwortung für die Minderheiten wurde dabei auf die zentralen Machtorgane der Sowjetrepubliken verlagert.

Im zweiten Teil untersucht Dönninghaus die Bedeutung, welche die Zentralorgane der Sowjetmacht für die Politik gegenüber den Minderheiten hatten. Dabei interessiert er sich vor allem für die Deutsche Abteilung des Volkskommissariats für Nationalitätenfragen, für die Nationalitätenabteilung des Allrussischen Zentralen Exekutivkomitees und für den Nationalitätenrat des Zentralen Exekutivkomitees der UdSSR. Darüber hinaus ist der Bildungspolitik gegenüber den Minderheiten ein eigenes Unterkapitel gewidmet. Vor allem aufgrund des Mangels an ‚geeigneten‘ Lehrern und an Unterrichtsmaterialien in den nationalen Sprachen konnte die Sowjetisierung des Bildungssystems bei den nationalen Minderheiten bis Anfang der dreißiger Jahre nicht verwirklicht werden. Infolgedessen kam es bei den westlichen Minderheiten trotz des erklärten Kampfes gegen das Analphabetentum sogar zu einer Verminderung der Lese- und Schreibfähigkeit.

Im dritten Teil steht das Zentralbüro der Deutschen Parteisektionen im Mittelpunkt des Interesses. Die Deutschen Parteisektionen vertraten die Interessen der deutschen Minderheit in den Gebieten, in denen diese einen nennenswerten Anteil an der Bevölkerung stellte. Dabei untersucht Dönninghaus die Funktionsweise dieses Instruments der Kommunistischen Partei beispielhaft für die anderen Minderheiten des Westens und in Abgrenzung von den territorialen Parteiinstitutionen wie etwa dem deutschen Gebietsparteikomitee der ASSR der Wolgadeutschen. Dönninghaus unterstreicht hier vor allem die limitierte Rolle der nationalen Sektionen im Rahmen der Parteihierarchie. Die Entstehung der nationalen Parteisektionen nach dem Prinzip der extraterritorialen national-kulturellen Autonomie passte nicht in die Stalinsche Nationalitätenkonzeption, und deshalb erscheint die Liquidierung dieser Institutionen, die zu keiner Zeit wirklichen Einfluss hatten, geradezu folgerichtig.

Im vierten Teil untersucht Dönninghaus die Politik der Kreml’-Führung – des Politbüros und namentlich Stalins – gegenüber den westlichen Minderheiten. Dabei beschreibt er akribisch die Repressionsmaßnahmen gegenüber den Deutschen und ihre Entstehungszusammenhänge. Der Versuch einer Massenemigration der deutschen Bevölkerung im Herbst 1929, die Kollektivierung und die Säuberungen ‚unzuverlässiger‘ Ethnien, die Anfang der dreißiger Jahre begannen und während des großen Terrors 1937/38 in Massenrepressionen gipfelten, markieren die Eckpunkte der Analyse. Dönninghaus kommt zu dem Schluss, dass in den dreißiger Jahren die zentrale Grundlage der sowjetischen Ideologie – der Klassenansatz – zugunsten des nationalen Prinzips in den Hintergrund trat. Die Deutschen, ebenso wie die anderen Völker des Westens, wurden aufgrund ihrer nationalen und nicht aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit repressiert.

Dieser Befund ist nicht neu; bei Dönninghaus erscheint diese Politik aber nicht als Bruch mit einer ‚affirmativen‘ Minderheitenpolitik in den zwanziger Jahren, sondern als Folge einer nur widerwillig zugelassenen, konzeptionell unausgewogenen und im sowjetischen Sinne erfolglosen ‚Behandlung‘ des als solches wahrgenommenen Minderheitenproblems. Diesen Schluss zieht der Autor mithilfe einer Untersuchung der staatlichen und der Parteiinstitutionen. Die Struktur der Institutionen bedingt den Aufbau der Arbeit, weshalb auch Aspekte der Minderheitenpolitik, die nicht durch die Institutionen abgebildet werden, weitgehend außen vor bleiben. An anderer Stelle ergeben sich durch diese Bindung an die Strukturen Redundanzen. Die Untersuchung der Institutionen ist sehr eng an den Quellen gearbeitet, aus denen z.T. ausführlich zitiert wird. All dies bedingt den beachtlichen Umfang der Untersuchung (693 S.), die als eine quellennahe und akribische Institutionengeschichte einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der sowjetischen Minderheitenpolitik darstellt.

Anke Hilbrenner, Bonn

Zitierweise: Anke Hilbrenner über: Victor Dönninghaus Minderheiten in Bedrängnis. Sowjetische Politik gegenüber Deutschen, Polen und anderen Diaspora-Nationalitäten 1917–1938. R. Oldenbourg Verlag München 2009. = Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, 35). ISBN: 978-3-486-58872-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Hilbrenner_Doenninghaus_Minderheiten_in_Bedraengnis.html (Datum des Seitenbesuchs)

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