Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Peter Heumos

 

Mark Pittaway: The Workers State. Industrial Labor and the Making of Socialist Hungary 1944–1958. Pittsburgh, PA: University of Pittsburgh Press, 2012. IX, 386 S., 11 Tab. = Pitt Series in Russian and East European Studies. ISBN: 978-0-8229-4420-1.

Forschungen über den Staatssozialismus haben sich in einem methodisch-konzeptionellen Schema eingerichtet, das nicht mehr neugierig macht: Das Ende des Staatssozialismus steht fest, nachzureichen bleibt nur noch die Erklärung. Kaum eine Untersuchung verzichtet darauf, den Untergang des Staatssozialismus zum alleinigen Bezugspunkt ihres Interpretationsrahmens zu machen, weil daraus nur Gewinn gezogen werden kann: Das letzte Glied der Ereigniskette ist bekannt, also lässt sich ohne große Mühe eingeschlossener‘ Argumentationszusammenhang herstellen, und da das Ende im Anfang beschlossen liegt, winkt auch eine Prämie für historischenWeitblick.  

Das Buch des britischen Historikers Pittaway ist weit entfernt von diesem Zugriff, der nicht der Sache selbst, sondern einer Funktion hinter ihrem Rücken gilt. Kein Wort über ein Untergangsszenario, dessen Konturen sich schon in den Anfängen der staatssozialistischen Systeme abzeichnen sollen. Kein Wort über das begriffliche Instrumentarium der Modernisierungs- und der Systemtheorie, das die Debatte über die Ursachen des Zusammenbruchs des Staatssozialismus um eine ArtAbzählverfahren‘ bereichert hat: Man stellt die Strukturelemente der kapitalistischen Moderne (Marktwirtschaft, pluralistische Demokratie, Rechtsstaatlichkeit etc.) denen des Staatssozialismus gegenüber, und die empirische Differenz ergibt den Bedingungsfaktor für den Kollaps des Staatssozialismus.

Pittaway analysiert vor allem den Themenkomplex, der dieses Interpretationsmuster in besonderem Maße auf sich zieht, nämlich die alle Bereiche der Gesellschaft und des Institutionensystems erfassenden informellen bzw. Netzwerkstrukturen. Diese sind bisher zwar keineswegs gründlich erforscht, prägen aber die Argumentation der Literatur. Derinformelle Subkontinent‘ des Staatssozialismus steht für funktionale Entdifferenzierung, d.h. für die Auflösung ursprünglich autonomer, mit eigenen Rationalitätskriterien ausgestatteter Handlungs- und Wertsphären, und gilt als eine entscheidende Ursache des Zusammenbruchs des Staatssozialismus.

Pittaways Buch zeigt dagegen, dass die auf den ersten Blick amorphen staatssozialistischen Netzwerke einen fruchtbaren Boden für politisch-soziale Lernprozesse darstellten und strukturbildend wirken konnten. In Ungarn brachten sieausgehend von den Betriebeneine gesamtgesellschaftliche Bewegung hervor, die zur Novemberrevolution 1956 und zum Sturz der ungarischen KP führte. Das Neue an diesem politikgeschichtlich oft genug beschriebenen Vorgang ist der von Pittaway akribisch geführte,  sozialgeschichtlich fundierte Nachweis, dass diese Bewegung auf einem tastenden Prozess der Aufstufung von Gegenmacht beruhte, der sich über viele Jahre hinweg lediglich auf ein informelles soziales Beziehungsgeflecht im Betrieb und in dieser Informalität bewahrte Wertvorstellungen stützen konnte.

Pittaways Distanz zum Mainstream der Literatur ist noch in anderer Hinsicht gewinnbringend, und zwar im Blick auf die Frage nach alternativen Entwicklungen auf dem Boden des Staatssozialismus. Methodische Gründe legen es nahe, dieser Frage auch dann nachzugehen, wenn Alternativen nicht realisiert oderwie die ungarische Rätedemokratie nach 1956wieder verschüttet wurden. Allein die Klärung dieser Frage vermittelt eine genauere Vorstellung davon, welche konkreten Handlungsspielräume das jeweilige staatssozialistische System tatsächlich eröffnete.

Ungarn bot für eine alternative Bewegung in der Arbeiterschaft schlechte Voraussetzungen. Das lag einmal an der autoritären politischen Kultur des Landes, die das faschistische Erbe der Zwischenkriegszeitauch in Teilen der Arbeiterschaftnicht abschütteln und damit der Gewaltbereitschaft und dem Terror der ungarischen KP den Anschein politischer Legitimität verleihen konnte. Zum anderen war die Arbeiterschaft sozial, politisch und kulturell so stark differenziert, dass ihre Handlungsfähigkeit an den Fabriktoren endete. Grundmuster der Darstellung Pittaways sind denn auch drei Arbeitergruppen, die weder sozialstrukturell und soziokulturell noch im Hinblick auf ihre politische Tradition auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind: die Arbeiter auf den Ölfeldern der Region Zala, deren landwirtschaftlicher Nebenerwerb sie an agrarisch-konservative Lebenszusammenhänge band; die Bergarbeiter in Tatabánya, die in Wohnkolonien um die Gruben oder auf dem Dorf lebten, zwischen nationalistischen und kommunistischen Tendenzen schwankten und ein Element ständiger sozialer Unruhe bildeten; schließlich die Industriearbeiter der Budapester Vorstadt Újpest, die bis zur Horthy-Diktatur zum  militanten Flügel der Sozialdemokratie gehörten, es dann aber gelegentlich auch mit den faschistischen Pfeilkreuzlern versuchten.    

Da der Widerstand der Arbeiter gegen die KP-Diktatur, so die zentrale These Pittaways, die traditionellen soziokulturellen Wertorientierungen der Arbeiterschaft reproduzierte, wurde diese innere Differenzierung nicht abgebaut. Phasenweise wird sie sich eher vertieft haben, weil einzelne Maßnahmen der KP höchst unterschiedliche Resonanz in der Arbeiterschaft fanden. Das Musterbeispiel ist die Kollektivierung der Landwirtschaft, die die mitbetroffenen Arbeiter in der Region Zala in den Antikommunismus trieb, während die Arbeiter in Újpest sie als wirkungsvollen Schlag gegen die Preistreiberei der privaten landwirtschaftlichen Betriebe befriedigt zur Kenntnis nahmen. Auch das Problem, das die verschiedenen Gruppen der Arbeiterschaft schließlich zu gemeinsamer Aktion zusammenführte, nämlich die massive Kritik am industriellen Management, wurde unterschiedlich wahrgenommen. In Zala sahen die Arbeiter in der Entmachtung des industriellen Managements die Quittung für die Vernachlässigung seinerpatriarchalischen Fürsorgepflichten, in Újpest dagegen jagten die Arbeiterräte das Leitungspersonal aus den Betrieben, weil dessen bürokratische Kontrolle der Produktion für sie der  Krebsschaden der Ökonomie war.

Die Räterevolution war, folgt man Pittaway, ein Gemisch aus traditionalen Werten und gesellschaftskritischen Momenten, die Erfahrungen der staatssozialistischen Periode verarbeiteten. Zu diesen Erfahrungen gehörte u.a. die Zielvorstellung, die Politisierung der Arbeit aufzuheben. An diesem Detail wird deutlich, dass der Mainstream der Literatur empirisch zu kurz greift. Die (geplante) Differenzierung von Arbeit und Politik lässt nicht viel übrig von der Behauptung, derinformelle Subkontinent‘ des Staatssozialismus sei insofernunproduktiv‘ gewesen, als er nichts zum Aufbau marktförmiger Gesellschaften beitrug. Hinfällig wird am ungarischen Beispiel auch die Annahme, funktionale Entdifferenzierung sei als gleichsam naturgesetzlich verlaufender Prozess ausschlaggebend für den Untergang des Staatssozialismus gewesen: Die Räterevolution verdankte ihren Erfolg in erster Linie der Tatsache, dass die Arbeiter ihren informellenBesitzstand‘ in den Betrieben bewusst zu dem Zweck in Regie nahmen, um den Sturz der ungarischen KP herbeizuführen.

Peter Heumos, Moosburg

Zitierweise: Peter Heumos über: Mark Pittaway: The Workers’ State. Industrial Labor and the Making of Socialist Hungary 1944–1958. Pittsburgh, PA: University of Pittsburgh Press, 2012. IX, 386 S., 11 Tab. = Pitt Series in Russian and East European Studies. ISBN: 978-0-8229-4420-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Heumos_Pittaway_The_Workers_State.html (Datum des Seitenbesuchs)

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