Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reivews 6 (2016), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Julia Herzberg

 

„Auch in Moskwa habe ich Ursache zufrieden zu sein.“ Christian von Schlözers Privatkorrespondenz mit der Familie. Akademische Lebenswelten, Wissens- und Kulturtransfer in Russland am Beginn des 19. Jahrhunderts. Ediert, kommentiert, eingeleitet und herausgegeben von Alexander Kaplunovskiy. Münster, Berlin, Wien [usw.]: LIT, 2014. IV, 485 S. = Mainzer Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 5. ISBN: 978-3-643-11816-5.

Der Name Schlözer ist vor allem bekannt durch August Ludwig von Schlözer, den bedeutenden Historiker. Doch nicht nur Wirtschaftshistorikern ist auch der Name seines ältesten Sohnes Christian ein Begriff. Christian Schlözer folgte den Fußstapfen seines Vaters. Auch er ging 1796 in das Zarenreich, wo er sich einige Jahre als Privatlehrer verdingte, bis er als Universitätsprofessor und Politökonom Karriere machte. Schlözer befürwortete die liberale Wende unter Alexander I; sein Gönner und Patron Michail Nikitič Murav’ëv beteiligte ihn schließlich an den Bildungsreformen 1802–1804. Für diese Aufgabe hatte er sich durch eine Rede auf Alexander I. empfohlen, in der er die Stärken und Schwächen Russlands scharfsinnig analysiert hatte. Er war Augenzeuge von Napoleons Russlandfeldzug, erlebte die Evakuierung der Moskauer Universität nach Nižnij Novgorod und erlitt 1812 die Vernichtung seines Hab und Gutes durch den Brand von Moskau. Nach einem erfolglosen Versuch, in Breslau Universitätsprofessor zu werden, gelang ihm die Rückkehr nach Deutschland, als er 1828 in Bonn eine außerordentliche Professor antreten konnte. Drei Jahre später starb Schlözer im Alter von 57 Jahren in Wiesbaden.

Der von Alexander Kaplunovskiy herausgegebene Quellenband umfasst vor allem den zwischen 1796 und 1807 verfassten familiären Schriftverkehr Christian Schlözers mit seinen Eltern, zwei Briefe der Schwester Dorothea Rodde-Schlözer aus den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts sowie Schlözers Entwurf für eine Autobiographie. Hilfreich für eine weitere Kontextualisierung ist der Anhang, der neben Schlözers kritischer Analyse Russland zur Zeit der Thronbesteigung Alexander I. auch Dokumente wie das Entlassungszeugnis der Moskauer Universität enthält. Den Quellen ist eine instruktive Einführung vorangestellt, in der Alexander Kaplunovskiy einen Überblick über Schlözers Lebenslauf bietet, die Quellen und die Person Christian Schlözers in die historischen Kontexte einordnet und die Relevanz der Quellen für verschiedene Forschungsansätze diskutiert.

Der Briefwechsel beeindruckt in zahlreichen Aspekten. Er zeigt – erstens – deutlich, wie Schlözer den bekannten Namen seines Vaters nutzte, um Zugang zu den sozialen und politischen Eliten St. Petersburgs und Moskaus zu gewinnen. Diese Kontakte halfen ihm, das ungeliebte und durch unglückliche Liebeshändel getrübte Dasein eines Hauslehrers hinter sich zu lassen. Zugleich offenbaren die Briefe auch, wie spannungsreich das Verhältnis Christian Schlözers zu seinem Vater war, dessen Ansprüchen und Erziehungsplänen er erst mit seiner Berufung zum Professor genügen konnte. Während August Ludwig von Schlözer die Briefe nutzte, um Neuigkeiten aus Russland sowie Materialien und Quellen für seine wissenschaftlichen Arbeiten zu erhalten, war für Christian die Anerkennung seines Vaters die wichtigste Motivation für die Korrespondenz. Wahrscheinlich brach gerade deshalb mit dem Tod des berühmten Vaters – die Briefe von Christians Schwester beklagen dies unverblümt – der familiäre Austausch ab.

Zweitens wird sichtbar, welche Perspektiven das Russland des 18. Jahrhunderts jungen Gelehrten aus Westeuropa bot, denen die ‚Akademikerschwemme‘ in Westeuropa häufig keine Anstellung und Aufstiegschancen gewährte. Mit offenem, neugierigem Blick begegnete der junge Schlözer seiner Wahlheimat, die er aus den Erzählungen seines Vaters kannte. Kurz nach seiner Ankunft in St. Petersburg schrieb er begeistert nach Hause: „Wir glaubten in einer bezauberten Welt zu sein.“ (S. 109) Die guten Verdienstmöglichkeiten und das Versprechen einer akademischen Karriere zogen Schlözer an. Materiell ging es schnell aufwärts. Schlözer, der als Hauslehrer begonnen hatte, unterrichtete in adligen Pensionaten und gründete schließlich seine eigene Lehranstalt. Seinen Erfolg als Lehrer brachte er alles andere als eitel auf den Punkt: „Man kann hier alles an den Mann bringen, weil es oft an Konkurrenz fehlt.“ (S. 273) In dem Briefwechsel spiegelt sich – wie Kaplunovskiy in seiner Einleitung treffend konstatiert – die Bereitschaft der ethnisch, konfessionell und sprachlich durchmischten russländischen Gesellschaft wider, die Migranten aus dem Westen offen aufzunehmen und ihnen Anerkennung und Aufstieg zu ermöglichen.

Drittens zeigt der Briefwechsel, dass für die Neuankömmlinge die Leibeigenschaft ein brennendes Thema war. Immer wieder diskutiert Schlözer die Folgen der Leibeigenschaft und wägt Hörensagen mit dem Augenschein ab. Das in Komödien und der Pornographie des 18. Jahrhunderts beliebte Motiv des Rechts der ersten Nacht, welches dem Gutsherrn Zugriff auf frischvermählte Bäuerinnen gebe, würde es nicht geben. Die Russen seien „eine glückliche Nation […] trotz der Leibeigenschaft“ (S. 208). Solche Aussagen offenbaren, wie sehr Christian Schlözer bereit war, eigene Vorurteile zu hinterfragen. Darüber hinaus lässt sich an Schlözers Lebensweg auch ein Wandel in der Diskussion um die Leibeigenschaft nachvollziehen. Statt mit drastischen Bildern ethisch gegen die Leibeigenschaft aufzutreten, bewertete Schlözer sie vor allem aus wirtschaftlichen Gründen kritisch. Der Politökonom war einer der ersten, der Adam Smiths ökonomisches Denken im Zarenreich propagierte, wonach die unfreie Arbeit wirtschaftliche Prosperität hemme.

Die verdienstvolle Edition erweitert die Quellenbasis auf zahlreichen Gebieten. Sie bietet neues empirisches Material für die Biographieforschung und erlaubt Einblicke in die Lebenswelten und Akkulturationsstrategien von Migranten. Wissenschaftshistoriker können die Aufzeichnungen der Familie Schlözer nutzen, um mehr über die Arbeitsprozesse an der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg und an der Moskauer Uni­versität zu erfahren. Die Briefe bieten darüber hinaus wichtiges Material, um das Entstehen einer Expertenkultur und die Ausdifferenzierung von Fachwissenschaften im Zarenreich nachzuzeichnen. Gleichzeitig lässt sich an der Person Schlözers und seiner Tätigkeit als Hauslehrer, Pensionatsleiter und Universitätsprofessor zeigen, wie der Wissens­transfer auf verschiedenen Ebenen funktionierte und welche Akteure, Institutionen, Diskurse und medialen Kanäle daran beteiligt waren. Besonders eine Geschichte der russischen Aufklärung, die sich nicht einseitig als Ideen- oder Einflussgeschichte versteht, sondern die Prozesshaftigkeit des Austausches in den Mittelpunkt stellt, kann von der Quellenedition profitieren. Der gelungenen Publikation ist daher eine breite Verwendung in Forschung und Lehre zu wünschen.

Julia Herzberg, Freiburg im Breisgau

Zitierweise: Julia Herzberg über: „Auch in Moskwa habe ich Ursache zufrieden zu sein.“ Christian von Schlözers Privatkorrespondenz mit der Familie. Akademische Lebenswelten, Wissens- und Kulturtransfer in Russland am Beginn des 19. Jahrhunderts. Ediert, kommentiert, eingeleitet und herausgegeben von Alexander Kaplunovskiy. Münster, Berlin, Wien [usw.]: LIT, 2014. IV, 485 S. = Mainzer Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 5. ISBN: 978-3-643-11816-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Herzberg_Schloezer_Auch_in_Moskwa.html (Datum des Seitenbesuchs)

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