Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Heidi Hein-Kircher

 

Kulturpolitik und Theater. Die kontinentalen Imperien in Europa im Vergleich. Hrsg. von Philipp Ther. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2012. 324 S. = Die Gesellschaft der Oper. Musikkultur europäischer Metropolen im 19. und 20. Jahrhundert, 10. ISBN: 978-3-205-78802-7.

Inhaltsverzeichnis:

http://d-nb.info/1018012990/04

 

Kulturpolitik entwickelte sich für die modernen Staaten zu einer staatlichen Kernaufgabe. So verwundert es nicht, dass auch die totalitären und autoritären Regime des 20. Jahrhunderts sie dafür verwendeten, um die gesellschaftliche Integration zu fördern und die eigene Macht zu legitimieren. Durch Kulturpolitik wird die Deutungsmacht der Regierenden manifest und mit dem Ziel geführt, das gesellschaftliche Bewusstsein zu beeinflussen. Daher warseit dem späten 18. Jahrhundert [] Kulturpolitik immer auch Gesellschaftspolitik(S. 8)Kulturpolitik ist somit als Versuch der Herrschenden zu werten, über die Gründung und Förderung kultureller Institutionen nicht nur Einfluss auf das kulturelle Schaffen zu nehmen, sondern auch auf die gesellschaftliche Rezeption. Es erstaunt daher, dass zwar in der Politologie cultural policy studies als Forschungsfeld erkannt worden sind, Kulturpolitik aber bislang nicht umfassend in historischer Perspektive untersucht worden ist.

Dieses Desiderat greift der vorliegende Band erstmals auf und fokussiert dieses Forschungsfeld in fünf generalisierenden Beiträgen und acht Fallbeispielen in historisierender Perspektive. Denn die grundlegenden Funktionen von Kulturpolitik waren schon den europäischen Imperien des 19. Jahrhundert bewusst, und sie nutzten sie in unterschiedlichem Maße. Prämisse des Bandes ist daher mit Blick auf den staatlichen Handlungsrahmen vor 1918, dass die Imperien die Grundlagen von Kulturpolitik legten, weil sie durch sie ihre Herrschaft legitimieren und die innere Kohäsion und Macht der Reiche stärken wollten. Daher hätten sich die kulturpolitischen Aktivitäten im 19. Jahrhundert verstärkt und Kulturpolitik habe sich zu einem eigenen Diskurs- und Handlungsfeld entwickelt. Die gesellschaftspolitische Funktionalisierung von Kultur sei somit vor allem seit der Aufklärung eine Möglichkeit gewesen, so der Herausgeber, die mission civilisatrice der Imperien auf die eigene Gesellschaft zu verlagern. Deutlich zu erkennen sei diese Instrumentalisierung etwa im Falle der Habsburgermonarchie, wo Kultur in den sechziger Jahren nach den militärischen Niederlagen zu einem Substitut für den außenpolitischen Einflussverlust geworden sei. Gleichwohl stellt Ther in der Einleitung resümierend fest, dass von den kontinentaleuropäischen Imperien vor allem das Russländische Reich eine wirksame und durchdachte Kulturpolitik im Sinne dieser mission civilisatrice gehabt habe, während sich zwar die Habsburgermonarchie alsKulturstaatstilisiert und auch Preußen sich durchaus als solcher gesehen habe. Gleichwohl hätten sich auch die Nationalbewegungen vor 1918 der kulturellen Institutionen bedient und verschiedene Genres für ihre Zwecke eingesetzt, um die Angehörigen ihrer jeweiligen Nation zu mobilisieren, so dass nach 1918 Kulturpolitik zunächst nicht zu einem erstrangigen Handlungsfeld der neuen Staaten geworden sei.

Diese in der Einleitung diskutierten Grundannahmen werden in den zwei Sektionen des Bandes hinterfragt. In einer ersten Sektion diskutieren fünf Beiträge die Anfänge und Grundlagen der Kulturpolitik der vier ImperienRussländisches Reich (Richard Wortman), Habsburgermonarchie (Beiträge von Franz Fillafer und Elisabeth Großegger) und Ottomanisches Reich (Adam Mestyan). Letzterer steht jedoch isoliert, denn er wird nicht, im Unterschied zu den Beiträgen über die übrigen Imperien, durch Fallbeispiele der zweiten Sektion ergänzt. Zwei Beiträge erweitern den räumlichen und zeitlichen Rahmen insofern, als Jutta Toelle die Kulturpolitik in Lombardo-Venetien 1857–1859 und Oksana Sarkisova die sowjetische Kulturpolitik bis 1938 am Beispiel des Musiktheaters und des Kinos diskutieren. Die acht Fallstudien kontrastieren insgesamt den imperialen Anspruch mit der Verwirklichung vor Ort, so dass deutlich wird, dass die jeweilige regionale Implementierung nach den dortigen gesellschaftlichen Bedürfnissen erfolgte.

Die besondere Bedeutung der mission civilisatrice für das Russländische Reich zeigen die Studien zum Theater in Kyiv zwischen 1856 und 1866 von Ostap Sereda und vor allem zum Transfer kultureller Praktiken nach Georgien, den Birgit Koch am Beispiel von Oper und Ethnografie diskutiert. Die so geschaffenen Grundlagen staatlicher Kulturpolitik wurden dann von der sowjetischen Kulturpolitik genutzt, wie Oksana Sarkisova am Beispiel von Musiktheater und Kino darlegt. Innerhalb des Habsburgerreiches dagegen lässt sich eine wenig stringente Kulturpolitik feststellen, wie nicht nur der generalisierende Beitrag von Franz Fillafer zur FrageImperium oder Kulturstaatund damit zur Historisierung der Nationalkulturen im 19. Jahrhundert zeigt, sondern wie auch durch den Vergleich der Beiträge von Elisabeth Großegger zur Kultur- und Theaterpolitik in Wien, von András Gergely zum Verhältnis von Kulturpolitik und Nationsbildung in Ungarn, von Jiří Štaif zur Kulturpolitik der böhmischen Stände vor 1848, von Jutta Toelle zur Kulturpolitik von Erzherzog Ferdinand Maximilian in Lombardo-Venetien und von Isabel Röskau-Rydel zum Verhältnis von staatlicher Kulturpolitik und bürgerlichem Engagement in der ersten Hälfte deslangen19. Jahrhunderts deutlich wird. Letztlich nur sehr exemplarisch behandelt Alina Hinc die preußische Kulturpolitik. Sie diskutiert die Entwicklung des deutschen und polnischen Theaters in Posen während der Teilungszeit. Dieser eher kursorisch angelegte, aber dennoch sehr aufschlussreiche Beitrag verdeutlicht die frühe Politisierung des Theaters zumindest in den multiethnischen Gebieten Preußens.

Obwohl es dem Herausgeber ein Anliegen war, dass die Beiträge die staatlichen Versuche behandeln, die Entwicklung kultureller Institutionen, ihre kulturelle Produktion und auch die gesellschaftliche Rezeption zu beeinflussen, handelt es sich weniger um analytische Beiträge denn um Artikel, die die Realisierung und Entwicklung der Kulturpolitik vor Ort beschreiben. So suggeriert beispielsweise der Beitrag von Jiří Štaif zu dendrei Ebenen der Kulturpolitik der böhmischen Stände vor 1848einen analytisch-systematisierenden Zugang, er beschreibt aber Prager kulturelle InstitutionenTheater, Museum und die Patriotisch-ökonomische Gesellschaft. Zu bedauern bleibt auch, dass nicht wirklich eine Rückbindung der Fallstudien zu den übergreifenden Beiträgen erfolgt ist, so dass kein reflexiver Austausch erfolgt. Lässt sich das Fehlen von Fallstudien zum Ottomanischen Reich noch mit einem schwierigen Forschungsstand erklären, so ist zu fragen, warum sich die Beiträge neben einem Schwerpunkt zur Habsburgermonarchie (sechs Aufsätze) auf das südliche Russländische ReichKyiv, Tifliskonzentrieren, während die sicherlich ebenso interessanten kulturellen Institutionen in den Ostseegouvernements nicht behandelt werden, obwohl sie eine ergiebige Vergleichsmöglichkeit darstellen würden. Insgesamt wird somit ein breites Spektrum instruktiver Fallbeispiele behandelt, die ihrerseits auf divergierenden Forschungsständen basieren. Als weiterer Kritikpunkt ist anzumerken, dass die Fallstudien nicht auch die lokale Ebenedie Lokalpolitikmit einbeziehen bzw. die lokale Kulturpolitik mit berücksichtigen, weil diese durchaus andere Ziele mit den kulturellen Institutionen verbinden konnte. Insofern stellt der vorliegende Band trotz dieser Monita eine wichtige Bestandsaufnahme und hoffentlich ein wichtiges Initial für weitere vertiefende Forschungen zur Kulturpolitik im östlichen Europa dar.

Heidi Hein-Kircher, Marburg/Lahn

Zitierweise: Heidi Hein-Kircher über: Kulturpolitik und Theater. Die kontinentalen Imperien in Europa im Vergleich. Hrsg. von Philipp Ther. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2012. 324 S. = Die Gesellschaft der Oper. Musikkultur europäischer Metropolen im 19. und 20. Jahrhundert, 10. ISBN: 978-3-205-78802-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Hein-Kircher_Ther_Kulturpolitik_und_Theater.html (Datum des Seitenbesuchs)

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