Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Heidi Hein-Kircher

 

Maciej Janowski: Birth of the Intelligentsia 1750–1831. A History of the Polish Intelligentsia. Part 1. Hrsg. von Jerzy Jedlicki. Frankfurt a. M.: Peter Lang, 2014. 274 S., 1 Kte. = Geschichte – Erinnerung – Politik. Posener Studien zur Geschichts-, Kultur- und Politikwissenschaft, 7. ISBN: 978-3-631-62375-6.

Jerzy Jedlicki: The Vicious Circle – 1832–1864. A History of the Polish Intelligentsia. Part 2. Hrsg. von Jerzy Jedlicki. Frankfurt a. M.: Peter Lang, 2014. 350 S., 1 Abb. = Geschichte – Erinnerung – Politik. Posener Studien zur Geschichts-, Kultur- und Politikwissenschaft, 8. ISBN: 978-3-631-62402-9.

Magdalena Micińska: At the Crossroads 1865–1918. A History of the Polish Intelligentsia. Part 3. Hrsg. von Jerzy Jedlicki. Frankfurt a. M.: Peter Lang, 2014, 227 S., 1 Kte. = Geschichte – Erinnerung – Politik. Posener Studien zur Geschichts-, Kultur- und Politikwissenschaft, 9. ISBN: 978-3-631-62388-6.

Die Intelligencja ist in den polnischen wissenschaftlichen Diskursen über gesellschaftliche Gruppen, aber auch generell in der Publizistik ein kontrovers diskutiertes Thema. Hierbei geht es etwa um ihre Haltung gegenüber anderen Schichten, etwa zu Arbeitern und Bauern, oder um die Frage von Opportunismus gegenüber dem jeweils herrschenden System oder um Gründe für Nonkonformität. Wie die Beurteilung ihrer Rolle für die polnische Gesellschaft, so ist auch eine genaue Definition vom jeweiligen Standpunkt abhängig. Der in den anzuzeigenden Bänden verwendete Begriff ist daher ein pragmatischer: Er bezieht sich auf eine engere Gruppe von Personen aus verschiedenen Klassen und Berufen, die mehr oder weniger gebildet waren, ihr Einkommen durch eigene Arbeit verdienten und sich dem Dienst an der nationalen Gemeinschaft verpflichtet fühlten (Bd. 1, S. 11), wodurch sie in der nationalen Bewegung eine führende Rolle einnahmen.

Da jedoch gerade die Rolle der Intelligencja für die Entwicklung eines modern nationalen Bewusstseins in der Zeit der Teilungen von eminenter Bedeutung war, ist eine Synthese ihrer Geschichte ein Desiderat der historischen Forschung gewesen. Diese Lücke schließt die von Jerzy Jedlicki als langjährigem Vorsitzenden der Sektion zur Geschichte der Intelligencja des Historischen Instituts der polnischen Akademie der Wissenschaften konzipierte und mit zwei weiteren ausgewiesenen Forscherpersönlichkeiten aus dem Bereich der polnischen Geschichte des 19. Jahrhunderts verfasste Trilogie, die nach einer polnischen Fassung aus dem Jahr 2008 [Jerzy Jedlicki (Hrsg.): Dzieje inteligencji polskiej do roku 1918, Bd. 1 Maciej Janowski: Narodziny inteligencji, 17501831, Warszawa 2008; Bd. 2 Jerzy Jedlicki: Błędny koło, 18321864, Warszawa2008; Bd. 3 Magdalena Micińska: Inteligencja na rozdrożach, 18641918, Warszawa2008] nun auch für ein breiteres interessiertes Publikum in englischer Sprache vorliegt. Zwei Monita seien vorweg an dieser Stelle genannt: Es ist erstens aus der Publikation nicht ersichtlich, ob es sich nur um eine Übersetzung oder um eine ergänzte, veränderte bzw. aktualisierte Übersetzung handelt. Zweitens fehlt eine Bibliografie, die dem interessierten Leser zumindest grundlegende weitere Informationen vermitteln könnte.

Obwohl der Begriff „Intelligencja“ für die soziale Gruppe, der gleichermaßen Personen aus den polnischen Bildungs- wie der Funktionseliten zuzurechnen sind,  in Übernahme des Hegelschen Begriffes erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts verwendet wurde, setzt der erste, von Maciej Janowski verfasste Band um 1750 ein, während die beiden weiteren Bände den gängigen Zäsuren seit 1830 folgen. Insgesamt wird in der Trilogie deutlich, dass die Bezeichnung „Intelligencja“ zweigleisig auszulegen ist: als soziale Gruppe, die all die entsprechenden Berufe  und Qualifikationen umfasst, und als kulturelle, ideologische und politische Elite – ein Problem, das sich auch in den methodischen (sozialhistorischen und. kulturhistorischen) Ansätzen und in den Darstellungsweise der drei Bände widerspiegelt und Jedlicki auch in seinem Vorwort zum ersten Band verdeutlicht. Dass die Intelligencja avant la lettre mit einbezogen wird, begründet der Verfasser damit, dass erste Vorläufer dieser Gruppe unter Stanisław II. August Poniatowski festzumachen sind: Es handelt sich um diejenigen, die in den Regierungskommissionen tätig waren, von der Laisierung der Lehrkräfte profitierten und scharfzüngig die „öffentliche Meinung“ während des Vierjährigen Sejms zu beeinflussten suchten und so die Routinen der polnischen Klassengesellschaft durchbrachen. Wie die übrigen Bände auch, untergliedert Janowski seine Abhandlung nach chronologischen Gesichtspunkten. Zunächst stellte er die Vorgeschichte dar, indem er einerseits einen kurz Abriss der Geschichte der Gelehrten seit dem Mittelalter gibt, dann die Bedeutung von Druckererzeugnissen und von Städten für die sich herausbildende Schicht professioneller Gelehrter und schließlich die wichtigsten Orte ihrer Entwicklung in Warschau und der Provinz diskutiert. Die Ursprünge dieser Schicht erörtert er anschließend anhand der Rolle von Mönchen, Gelehrten und Jakobinern als „intelligentsia in its original form“ (Janowski, S. 123) im Reformzeitalter, einer heterogenen Gruppe mit entsprechend heterogenen Ansichten, bei der es für die Zugehörigkeit noch keine formalen Qualifikationskriterien gab. An die Periode von der letzten Teilung bis zur Gründung des Großherzogtums Warschaus anschließend, diskutiert Janowski, wie sich der Begriff und die Gruppe der Intelligencja durch den Dienst am Staate bis zum Novemberaufstand konkretisierte, um abschließend ihre Bedeutung für den Ausbruch des Novemberaufstandes darzustellen. Der Novemberaufstand brachte somit den Durchbruch für die gesellschaftliche Bedeutung der gebildeten Schichten und damit das Hervortreten der Intelligencja, wobei das Ideal von Hingabe, Mission und Demokratismus entstanden sei. Mit diesem Aufstand habe auch das Pathos von Märtyrertum für die Gesellschaft in die Intelligencja Einzug gehalten; auch habe bis zu diesem Zeitpunkt noch kein klares Konzept von der Unabhängigkeit der Intelligencja bestanden. Allerdings, so kommt Janowski zum Schluss, sei die Verbindung zwischen Intelligencja und Aristokratie schwächer geworden, wodurch erstere als autonome Gruppe stärker geworden sei, was zugleich ein Zeichen für die niedergehende Bedeutung der Aristokratie für die polnische Kultur gewesen sei, wovon der Klein- und mittlere Adel profitiert habe.

Damit werden die Grundlagen für die Studie zum Teufelskreis – so der Titel des zweiten und umfangreichsten Bandes der anzuzeigenden Trilogie, der die Zeit zwischen November- und Januaraufstand behandelt – gelegt. Dieser von Jedlicki selbst verfasste Band behandelt die Folgen des ersten Aufstandes für die Intelligencja, woraus weitere insurrektionelle Vorstellungen in den Teilungsgebieten selbst und in der „Großen Emigration“ entstanden seien. Seine Argumentationslinie untergliedert Jedlicki in fünf Hauptkapitel, von denen das erste dem Exodus nach der Niederschlagung des Novemberaufstandes und dem Wirken der Intelligencja in der Großen Emigration gewidmet ist. Dadurch ist die Intelligencja in Kongresspolen ausgeblutet, aber Jedlicki stellt gerade deshalb daran anschließend die Folgen dieses Exodus der führenden Denker und Kulturschaffenden sowie der Bildungselite für das Land bis zur Mitte der 1840er Jahre in den Mittelpunkt. Die von Kongresspolen unterschiedliche Entwicklung im Großherzogtum Posen und im Kronland Galizien und Lodomerien seit dem gescheiterten Aufstandsversuch von 1846 bis zum Ende der 1850er Jahre werden anschließend gesondert diskutiert, geht es hierbei doch um die „Revolution der Intelligencja“ von 1848/49 und ihre Folgen für diese soziale Gruppe, weil mit dieser bürgerlich-demokratische und Freiheitsvorstellungen gleichermaßen verbunden wurden, die trotz der Niederschlagung eine langanhaltende Wirkung auch für die Entwicklung der Intelligencja als soziale Gruppe entfalteten. Setzt Jedlicki Ende der 1850er Jahre eine Zäsur, die sich mit der grundsätzlichen Entwicklung der beiden Teilungsgebiete begründen lässt, so ist dieser Zeitraum für Kongresspolen zugleich die Endphase der Herrschaft Zar Nikolaus I., die im Folgenden näher charakterisiert wird, weil sie sich von der Organischen Arbeit, der beginnenden Loyalitätspolitik gegenüber der Habsburgermonarchie sowie der Entwicklung liberalen Gedankenguts in den übrigen Teilungsgebieten durch eine Politik der Repressionen und Deportationen grundlegend unterscheidet. Anschließend diskutiert Jedlicki die beginnenden Aufstandsvorbereitungen durch die Intelligencja im Kampf um den Vorrang der nationalen Idee, aber auch den „Posener Arhythmus“, den er auch dadurch begründet sieht, als das Großherzogtum zu einer „vermittelnden Zone“ (Jedlicki, S. 252) für einströmende Ideen zwischen der Emigration und Polen geworden sei. Erst in dieser Phase sieht er einen gewissen Abschluss der Entwicklung zur „Intelligencja im polnischen Sinn“, wie er einen Abschnitt des Kapitels tituliert und worunter er die sich entwickelnden edukativen und wissenschaftlich Aktivitäten und das nationale Engagement gleichermaßen zusammenfasst. Der letztlich unzureichend durchgeplante und organisatorisch abgestimmte Ja­nuar­aufstand und seine Folgen, charakterisiert als „Sprung in den Abgrund“, wird vom Verfasser abschließend diskutiert, da er den tragischen Zenit für die Entwicklung der Intelligencja in jener Epoche bedeutet habe. Für Jedlicki hat die Intelligencja eine unterschiedliche und damit für sie als Ganzes widersprüchliche Entwicklung durchgemacht und zu„einem inneren Konflikt von Absichten und Hoffnungen“ geführt: Insbesondere die Fokussierung auf den „absoluten Primat der Unabhängigkeit“ (Jedlicki, S. 341) habe einer ostentativen Missachtung anderer auf die Kultur bezogener Aufgaben mit sich gebracht, während ein Teil der Intelligencjy der liberalen Fortschrittsidee den Vorzug gegenüber der nationalen Idee gegeben habe.

Die Folgen des von Jedlicki resümierend konstatierten Dilemmas der polnischen Intelligencja unter autokratischer und konservativer Herrschaft analysiert der die Trilogie abschließende Band von Magdalena Micińska über die Scheidewege der polnischen Intelligencja. In der Einleitung schlägt sie den Bogen von der Niederschlagung des Januaraufstandes zur Entwicklung einer auf Grund unterschiedlicher politischer Ideen fermentierten, sich modernisierenden Schicht, die sich radikal geändert habe und 1918 vor die Herausforderung gestellt wurde, den Staatsaufbau zu gestalten. Die ersten zwei Hauptkapitel widmet Micińska daher einerseits der Situation der Intelligencja nach der Niederschlagung des Januaraufstandes, die von weiteren massiven Deportationen begleitet war, aber auch der „Überproduktion“ von Angehörigen der Intelligencja auf Grund neuer Bildungseinrichtungen sowie ihren Lebensgewohnheiten, woraus daran anschließend die Entwicklungsbedingungen einer nationalen Kultur diskutiert werden.  Hiermit sind die Grundlagen für die anschließend erörterten ideologischen Debatten innerhalb der Intelligencja in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert gelegt. Sie fanden in den galizischen Milieus der Krakauer Konservativen (Stańczyken), der Demokraten und Positivsten sowie innerhalb des Warschauer Positivismus statt und setzten sich mit dem beginnenden Eindringen sozialer Ideen auseinander. Aus diesen Einflüssen habe sich das Selbstbild der polnischen Intelligencja in jenem Zeitraum gespeist. Die an Dynamik gewinnende Entwicklung an der Jahrhundertwende mit den antipositivistischen Aufbrüchen des Nationalismus und Sozialismus und die sich entwickelnden Erneuerungsbewegungen, aber auch der Generationenkonflikt und die Folgen der Revolution von 1905 diskutiert Micińska, um vergleichend das Leben von Intellektuellen in den Teilungsgebieten zu betrachten. Abschließend setzt sie deren Entwicklung im Land mit derjenigen der polnischen Milieus außerhalb der Teilungsgebiete wie auch mit den einströmenden europäischen Ideen und den Konsequenzen des Ersten Weltkriegs in Verbindung. Sie kommt zu dem Schluss, dass trotz der unterschiedlichen Einflüsse die polnische Kultur bis zum Ende des Ersten Weltkriegs keinen Riss aufgewiesen habe. Dies sei  das Hauptverdienst der Intelligencja gewesen, weil der Unabhängigkeitsgedanke als das einigende Band zwischen den Teilungsgebieten und deren Bevölkerung über mehrere Dekaden vor allem durch die Intelligencja aufrechterhalten und propagiert worden sei. Die politische Mobilisierung der Bevölkerung und ebenso die Vorbereitung der nach 1918 einsetzenden Reformen, etwa der Agrarreform, seien durch sie erfolgt. In ihrem Fazit sieht die Verfasserin diese Entwicklung als Dilemma, weil die Intelligencja sich selbst vergessen und zerrissen habe, was bis heute bemerkbar sei.

Die insgesamt sehr flüssig geschriebenen Bände stellen auch für einen nicht auf die Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts spezialisierten Leser eine sehr gut nachvollziehbare Darstellung der Gruppe dar, die für die gesamtgesellschaftlich-kulturelle, aber auch politisch-nationale Entwicklung zentrale Weichenstellungen vorgenommen hat. Zu betonen ist, dass es der Autorin und den Autoren gelungen ist, einerseits die von Jedlickis Vorwort eingeforderten Leitfragen zu bearbeiten und andererseits in jedem Band durchaus eigene Schwerpunktsetzungen vorzunehmen. Insgesamt bestechen die Bände auch durch eine notwendige, breite, aber dennoch stringente Kontextualisierung, so dass die Synthese dieser gesellschaftlichen Gruppe letztlich auch notwendigerweise auf eine Synthese der polnischen Geistes- und Ideengeschichte hinausläuft, die hervorragend die Waage zwischen thesenbildender übergreifender Darstellung und einer unvermeidlich exemplarischen Detailschilderung hält. Anzumerken bleibt aber abschließend, dass es die Autoren vermieden haben, die in Jedlickis Vorwort formulierte Definition und allgemeine Charakterisierung der Intelligencja für die jeweils von ihnen behandelten Epochen weiterzuentwickeln. Insgesamt handelt es sich um eine Synthese zur polnischen Gesellschafts- und Geistesgeschichte, die bereits jetzt zu einem Standardwerk geworden ist.

Heidi Hein-Kircher, Marburg

Zitierweise: Heidi Hein-Kircher über: Maciej Janowski: Birth of the Intelligentsia 1750–1831. A History of the Polish Intelligentsia. Part 1. Hrsg. von Jerzy Jedlicki. Frankfurt a. M.: Peter Lang, 2014. 274 S., 1 Kte. = Geschichte – Erinnerung – Politik. Posener Studien zur Geschichts-, Kultur- und Politikwissenschaft, 7. ISBN: 978-3-631-62375-6. Jerzy Jedlicki: The Vicious Circle – 1832–1864. A History of the Polish Intelligentsia. Part 2. Hrsg. von Jerzy Jedlicki. Frankfurt a. M.: Peter Lang, 2014. 350 S., 1 Abb. = Geschichte – Erinnerung – Politik. Posener Studien zur Geschichts-, Kultur- und Politikwissenschaft, 8. ISBN: 978-3-631-62402-9. Magdalena Micińska: At the Crossroads 1865–1918. A History of the Polish Intelligentsia. Part 3. Hrsg. von Jerzy Jedlicki. Frankfurt a. M.: Peter Lang, 2014, 227 S., 1 Kte. = Geschichte – Erinnerung – Politik. Posener Studien zur Geschichts-, Kultur- und Politikwissenschaft, 9. ISBN: 978-3-631-62388-6., http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Hein-Kircher_SR_History_of_the_Polish_Intelligentsia.html (Datum des Seitenbesuchs)

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