Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 8 (2018), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Heidi Hein-Kircher

 

Leipziger Zugänge zur rechtlichen, politischen und kulturellen Verflechtungsgeschichte Ostmitteleuropas. Hrsg. von Dietmar Müller und Adamantios Skordos. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2015. 338 S. ISBN: 978-3-86583-914-5.

Inhaltsverzeichnis:

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Die verflechtungshistorische Perspektive auf das multiethnisch und multikulturell geprägte östliche Europa ist in den vergangenen Jahren nicht zuletzt institutionell durch das Leipziger Leibniz-Institut für Kultur und Geschichte des östlichen Europa (GWZO) und persönlich durch das Engagement von Stefan Troebst vorangetrieben worden. Dieses Verdienst für die historische Forschung möchte der anzuzeigende Band hervorheben, und so ist er als eine Würdigung des Werkes und Einflusses von Troebst auf die historische Forschung zum östlichen Europa und – wenn dieses auch nicht explizit so formuliert wird – letztlich als Festschrift für ihn zu verstehen. Ziel des Bandes ist es daher, das thematische Spektrum dieser Zugänge zur Geschichte des östlichen Europa, die durch den Dialog mit Stefan Troebst geprägt worden sind, aufzuzeigen. Daher erscheint nur auf den ersten Blick der Band als wenig kohärent. Darüber hinaus ist es explizites Ziel der Herausgeber, den Leipziger Studierenden diese verflechtungshistorische Perspektive zu eröffnen (S. 8). Die insgesamt neunzehn Beiträge des Bandes, der mit einer Auswahlbibliografie der Schriften Stefan Troebsts abgeschlossen wird, widmen sich in vier Sektionen diesen Zugängen. Alle Autoren und Autorinnen wiederum haben, so betonen es die Herausgeber, einen persönlichen Bezug zu den Leipziger wissenschaftlichen Institutionen, die für die Entwicklung von transnationalen und verflechtungshistorischen Ansätzen bedeutend sind.

Zunächst wird die Völkerrechtsrechtsgeschichte, die in einem GWZO-Forschungsprojekt zum Einfluss des osteuropäischen Konfliktgeschehens auf die Entwicklung des modernen Völkerrechts im 19. und 20. Jahrhundert genauer analysiert wird, in fünf Beiträgen hinsichtlich ihrer Verflechtungen diskutiert. Claudia Kraft führt mit ihrem Beitrag in die Prägekraft der ostmitteleuropäischen, insbesondere der polnischen Rechtswissenschaft für die Entwicklung des modernen Völkerrechtes ein und nimmt zugleich die Rückwirkungen des internationalen Rechts auf das innerpolnische Strafrecht der Zwischenkriegszeit in den Blick. Dietmar Müller führt dieses Anliegen mit einem prosopographischen Ansatz fort, indem er Vespasian Pellas und Rafał Lemkins Einfluss auf die Entwicklung des Völkerstrafrechtes erörtert. Die Bewertung sexualisierter Gewaltverbrechen im Völkerrecht wurde durch die Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien erheblich beeinflusst, wie Adamantios Skordos anschließend zeigt. Der folgende Beitrag von Cindy Daase nimmt die Bedeutung von Mediatoren in Friedens- und Rechtssetzungsprozessen anhand von Richard Holbrookes und Martti Ahtisaaris Einsatz in den Blick, während Arno Trültzsch schließlich die sowjetische und die jugoslawische Interpretation des Völkerrechtsverständnisses im Sozialismus analysiert.

Der folgende, fünf Beiträge umfassende Teil widmet sich der Transnationalen Verflechtungsgeschichte. Zunächst diskutiert Matthias Midell am Beispiel des Jahres 1989 die Frage, was ein „globaler Moment“ sei. Damit stellt er die „Exklusivität“ (S. 10) des Fokus auf das östliche Europa bei der Auflösung der bipolaren Weltordnung 1989 in Frage und plädiert für eine globalgeschichtliche Perspektivierung. Daran anschließend arbeitet Frank Hadler die Entwicklung der Visegrad-Gruppe als (vorerst) letzten Baustein einer regional-transnationalen Kooperationsgeschichte heraus. Da die akademischen Berufe zahlreichem Austausch, Wettbewerb, aber auch Verflechtungen und Transfers unterliegen, zeichnet Hannes Siegrist die Entwicklung dieses Berufsfeldes im Sozialismus nach und zeigt, dass trotz Kritik und Distanzierungen zwischen östlichen und westlichen Kollegen und Kolleginnen sich die akademischen Professionen im östlichen Europa zwischen 1945 und 1989 doch im Rahmen eines „langfristigen europäischen Entwicklungspfades“ (S. 148) bewegten, was darauf verweist, dass er die Dynamik seiner Entwicklung vor allem im westlichen Europa erkennt. Katja Naumann erläutert anschließend die ideologischen Probleme, die in den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine von der UNESCO initiierte, vom eurozentrischen Fokus losgelöste Weltgeschichte aufwarf, und verweist so auf ein für die Weltgeschichtsschreibung wichtiges Moment, in dem über die Verhandlung von Eurozentrismus und Universalismus der Weg zur modernen Globalgeschichtsschreibung beschritten wurde. Anahid Babayan wiederum diskutiert am Beispiel Armeniens die Herausforderungen und Defizite bei der Förderung von Demokratisierung durch europäische Institutionen wie die OSZE und EU, die insbesondere in dem normative „one-size-fits-all“-Verständnis von demokratischer Entwicklung zu finden seien.

Die nächste Sektion widmet sich in sechs Beiträgen den Verflechtungen und Interdependenz von Erinnerungskulturen und Geschichtspolitik. Martina Baleva diskutiert mit dem in Leipzig prominent vertretenen Ansatz der visual history die historiographischen und bildgeschichtlichen Aspekte des nationalen Helden in der Fotografie und verweist auf den Einfluss der politischen Porträtfotografie auf das Geschichtsbewusstsein. Daran anschließend arbeitet Jenny Alwart die Rolle des Eurovision Song Contests als „Palimpsest historischer Mesoregionen“ für die Verhandlung von regionalkulturellen Gemeinschaftsbildungen im östlichen Europa heraus. Krzysztof Ruchniewicz vergleicht das historische Gedächtnis im städtischen Raum der beiden Partnerstädte Wrocław/Breslau und Dresden, in dem sich die „Mäander“ (S. 231) des 20. Jahrhunderts besonders deutlich zeigten, und folgert daraus, dass nach wie vor diese Erinnerungsarbeit eine ständige Aufgabe darstellt, auch wenn die freundschaftliche Annäherung beider Städte zu den Erfolgsgeschichten seit 1989 zu zählen sei. Lars Karl thematisiert daran anschließend die erinnerungskulturellen Narrative und Gegennarrative im Spannungsfeld der imperialen Peripherie am Beispiel des mit einem Totenkult verehrten legendären Führers der islamischen Bergvölker Imam Šamil (1797–1871) im späten Zarenreich, der Sowjetunion und der Republik Tschetschenien gleichermaßen. Dass gerade die Nationalitäten an der russländischen resp. sowjetischen Peripherie versuchten, historische Wurzeln außerhalb der Sowjetunion und möglichst jenseits der russischen bzw. russländischen Geschichte zu finden, wird neben dem Bezug auf Šamil auch am Beispiel des als Gründungsmythos fungierenden Bezugs auf die Hauptstadt der armenischen Bagratuni-Dynastie Ani deutlich, den Bálint Kovács untersucht. Sabine Stach fokussiert die Bruchzone zwischen Viktimisierung und Heroisierung am Beispiel von Jan Palach, der sich Anfang 1969 aus Protest gegen die Intervention des Warschauer Paktes gegen den Prager Frühling selbst verbrannte. Palach sei nicht nur ein tschechischer, sondern wegen seines Einsatzes gegen Gewaltherrschaft und Unterdrückung auch zu einem universellen und transnationalen Heros stilisiert worden.

Die drei Aufsätze der abschließenden Sektion widmen sich dem konflikthaften Verhältnis von Mehrheiten zu Minderheiten in ethnopolitischen und sozioökonomischen Kontexten. Zunächst zeigt Chris Hann anhand verschiedener Beispiele aus Ostmittel­europa, China und der Türkei Konsequenzen von nationalstaatlicher Politik gegenüber Mehrsprachigkeit auf und erörtert die Folgen von ethnischen Säuberungen für die Betroffenen. Die sowjetische und russische Politik gegenüber den Tscherkessen stellt Mari­eta Kumpilova einander gegenüber, um Kontinuitäten und Diskontinuitäten herauszupräparien. Die Sektion abschließend, diskutiert Jan Zofka am Beispiel von Betriebs- und Fabrikdirektoren in Westbosnien die ökonomischen Beweggründe für die postsozialistischen Separatismen. Gerade diese drei Beiträge verdeutlichen, dass eine zeitgenössische und transnationale Perspektivierung für das Verständnis gegenwärtiger Minderheitenprobleme und ihrer politischen Akteure höchst sinnvoll ist.

Die vier Sektionen benennen zahlreiche thematische und methodisch-konzeptionelle Impulse für die historischen Forschungen zum östlichen Europa, die unter dem Einfluss von Stefan Troebst am Wissenschaftsstandort Leipzig in den letzten Jahren entstanden sind. Unter dieser Perspektive scheint es durchaus gerechtfertigt, derartig diverse, im Einzelnen aber sehr interessante Beiträge in einem Band zusammenzufügen. Kritisch angemerkt soll schließlich werden, dass die räumliche Fokussierung weit über den im Titel des Bandes gesteckten geografischen Rahmen Ostmitteleuropas auf das gesamte östliche Europa hinausweist, so dass eine klarere Titelformulierung sicherlich andere Erwartungshaltungen des Lesepublikums produzieren würde.

Heidi Hein-Kircher, Marburg/Lahn

Zitierweise: Heidi Hein-Kircher über: Leipziger Zugänge zur rechtlichen, politischen und kulturellen Verflechtungsgeschichte Ostmitteleuropas. Hrsg. von Dietmar Müller und Adamantios Skordos. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2015. 338 S. ISBN: 978-3-86583-914-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Hein-Kircher_Mueller_Leipziger_Zugaenge.html (Datum des Seitenbesuchs)

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