Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  4 (2014), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Heidi Hein-Kircher

 

Lexikon der Vertreibungen. Deportationen, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Detlef Brandes, Holm Sundhaussen und Stefan Troebst in Verbindung mit Kristina Kaiserová und Krzysz­tof Ruchniewicz. Redaktion Dmytro Myeshkov. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2010. 801 S. ISBN: 978-3-205-78407-4.

Sozio-ökonomisch und politisch-weltanschaulich und/oder religiös motivierte Migrationen und Flucht sind Bestandteil der Geschichte in zahlreichen Regionen Europas und der Welt, und dies nicht nur in der Moderne. Vor allem ethnopolitisch motivierte Vertreibungen und Zwangsumsiedlungen prägen jedoch die moderne Geschichte Europas. Gerade Ethnizität wurde zu einem staatsbildenden Prinzip, von dem andere Ethnien in den jeweiligen Gebieten ausgeschlossen wurden, teilweise durch Zwangsmigrationen. Der Begriffethnische Säuberungenweist auf die damit verbundenen massiven Umbrüche im ethnischen, sozialen und kulturellen Gefüge hin. Insbesondere im 20. Jahrhundert mussten Millionen Europäer aufgrund staatlich veranlasster Zwangsmigrationen ihre Heimat verlassen, wurden doch im Zuge der Auflösung der Imperien bzw. Vielvölkerstaaten und der Nations- und Staatsbildungsprozesse erhebliche Bevölkerungsverschiebungen durchgeführt. Hierbei handelte es sich einerseits um binnenstaatliche Umsiedlungen, Deportationen, aber auch umwildeoderordnungsgemäßeVertreibungen und Umsiedlungen über die jeweiligen Staatsgrenzen hinweg. Letztere Gruppe verweist auf die Genese des Lexikons: Die Idee, ein solches Lexikon zu erarbeiten, ist im Rahmen der Debatten um das Zentrum gegen Vertreibung entstanden.

Ziel des vorliegenden Lexikons ist, sich nicht nur dem häufig kontroversen, aber teilweise auch unvollständigen Forschungsstand zu den Vertreibungen in Europa nähern. Es will sich in umfassender Weise diesen Geschehnissen widmen, indem nicht nur die Zwangsmigrationsprozesse,  sondern auch ihre Akteure, Opfer und damit ihre Wirkungen behandelt und die Geschehnisse periodisierend und kategorisierend analysiert werden. Die Herausgeber, die insbesondere in der Geschichte Ostmittel- und  Südosteuropas ausgewiesen sind,  haben hierfür 308 Lemmata gebildet, die von über 100 einschlägig arbeitenden Autorinnen und Autoren bearbeitet wurden. Die Lemmata wurden in vier Gruppen unterteilt: Betroffene Ethnien werden in den Heimat- und Aufnahmeländern ebenso behandelt wie die zentralen Pläne, Beschlüsse und Konferenzen, die die Zwangsmigration verursacht haben, ihre Akteure (Personen und Organisationen) und sowie die Aufarbeitung in Erinnerungskultur und Geschichtspolitik etwa durchMemorial.

Ausgehend von einem breiten Europabegriff, der aufgrund der Anlage der Lemmata auch Teile des Osmanischen Reiches bzw. der Türkei (die Levante und Teile des Kaukasus) ebenso einschließt wie die asiatischen Teile der Sowjetunion bzw. der Russländischen Föderation haben die Herausgeber fünf räumlich-zeitliche Schwerpunkte identifiziert, deren Fokus im Bereich Ost-, Südost- und Ostmitteleuropas liegt; nur ansatzweise wird dieser Bezugsraum verlassen, so etwa im LemmaAlgerier:  1. Südosteuropa zwischen den Balkankriegen und der Konferenz von Lausanne (1912–1923), 2. die Sowjetunion in den 1930er und 1940er Jahren, 3. die von der Politik des nationalsozialistischen Deutschland und seiner Verbündeten betroffenen Regionen, 4. Ostmitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg und schließlich 5. der ethnische Konflikt in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens. Handelt es sich um Lemmata, die die Situation in den aufnehmenden Staaten behandeln, wird der räumliche Bezug auf Europa verlassen. Obwohl die Herausgeber darauf hinweisen, dass  sie versuchen, alle Zwangsmigrationen in Europa gleichgewichtig zu behandeln, soweit es der Forschungsstand zulässt, liegt aufgrund des Umfangs das Hauptgewicht auf der durch die NS-Politik ausgelösten und von Deutschen erlittenen Zwangsmigration. Eher peripher wird dagegen etwa die (genozidale) Politik gegenüber den Armeniern, Juden und Roma behandelt.

Aufgrund des Umfangs des anzuzeigenden Lexikons können an dieser Stelle nicht alle Lemmata kritisch gewürdigt werden; auch eine exemplarische Besprechung einiger Artikel erscheint nicht sinnvoll, so dass an dieser Stelle einige grundsätzliche Monita formuliert werden sollen. Problematisch erscheint, dass die Herausgeber Lemmata, dieFluchtthematisieren, ausgeklammert haben, obwohl sie in der Einleitung aufFluchtverursachung als völkerrechtliches Delikthinweisenhier werden die Diskussionen in der gegenwärtigen Migrationsforschungsforschung praktisch ausgeblendet. Denn ist Flucht aus Angst vor Gewaltanwendung nicht auch als eine Art von Zwangsmigration zu sehen, und sind die Grenzen nicht teilweise fließend? Grundsatz für die Auswahl der Lemmata war die Abgrenzung zwischenVertreibung als Resultat äußeren ZwangsundFlucht als Ergebnis eigener Initiative(S. 8). DassFlucht, wenn auch aus eigener Initiative, etwa aus Angst vor Kriegsgeschehen, vorethnischen Säuberungenetc., angesichts der sie auslösenden Gewalt durchaus als zwangsweise gesehen und provoziert werden kann, wird ausgeblendet. Häufig müssenVertreibung und Fluchtgemeinsam betrachtet werden, was einige Lemmata zeigen, die explizit auchFluchtmitbehandeln. Beispiele sind die LemmataPolen aus Wolhynien und Ostgalizien: Ermordung und FluchtundOstpreußen: Flucht [sic!] und Vertreibung nach Deutschland“ – gerade diese Beispiele verdeutlichen, wie sinnvoll eine konzeptionelle Ausweitung des thematischen Rahmens gewesen wäre. Auch ein einseitiger Artikel zum StichwortFlucht“  und ein längerer Beitrag zur Definition vonFlüchtlingenbringen  hier wenig Abhilfe. Hier wäre zu fragen, ob es nicht im Sinne der Grundidee und der Impulse aus den Debatten, die zur Erarbeitung des  Lexikons führten, befriedigender gewesen wäre, sich der Debatte umFluchtundVertreibungzu stellen und das Konzept (und damit den Umfang) des Lexikons zu erweitern. Zu monieren ist auch das Fehlen einiger aus Sicht der Verfasser wichtiger Grundlagenartikel, die den Gesamtkontext erhellt hätten: So werden zwarnationale Minderheit,Selbstbestimmungsrecht der Völker,Minderheitenschutz,Nationalismus,NationalitätenpolitikundEthnopolitikbehandelt, aber beispielsweiseEthnizität,AssimilationundAkkulturation“  (im Gegensatz zuZwangsassimilation) nicht definiert werden. Die notwendige Definition vonZwangsmigrationund deren Abgrenzung zuMigrationwird hier ebenso wenig geleistet, obwohl gerade dies einen wichtigen grundlegenden Beitrag bedeutet hätte. So werden lediglich exemplarisch einige der wichtigsten Akteure von Zwangsmigrationen bzw. der sie auslösenden Politik und auch von der Erinnerungs- bzw. Geschichtspolitik (etwaMemorial,Landmannschaften) behandelt. So bleibt etwa zu fragen, warum derBund der Vertriebenennicht als eigenständige Lemmata behandelt werden.

Grundsätzlich bleibt anzumerken, dass es den Autorinnen und Autoren durchweg gelungen ist, den Spagat zwischen wissenschaftlich fundierter, den Forschungsstand berücksichtigender, aber knapper Analyse und Darstellung der einzelnen Stichwörter auf der einen und der Adressierung des Lexikons an eine breitere, interessierte Öffentlichkeit auf der anderen Seite zu bestehen. Die bibliografischen Angaben geben vor allem den Forschungsstand in westeuropäischen Sprachen wieder, nehmen aber auch die Standardwerke in den jeweiligen National- bzw. Regionalsprachen auf. Ein umfangreiches Personen, Orts- und Stichwortregister gibt dem Interessierten über die Lemmata hinaus Orientierungsmöglichkeiten. Trotz der geäußerten Einwände ist dieses Lexikon eine wichtige und notwendige Bestandsaufnahme zu Zwangsmigrationen im Europa des 20. Jahrhunderts, die es ermöglicht, sich diesem Phänomen in vergleichender Weise zu näherndenn erst ein Vergleich ermöglicht die Erkenntnis von Spezifika und Wirkungen des Geschehens.

Heidi Hein-Kircher, Marburg/Lahn

Zitierweise: Heidi Hein-Kircher über: Lexikon der Vertreibungen. Deportationen, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Detlef Brandes, Holm Sundhaussen und Stefan Troebst in Verbindung mit Kristina Kaiserová und Krzysz­tof Ruchniewicz. Redaktion Dmytro Myeshkov. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2010. 801 S. ISBN: 978-3-205-78407-4, http://www.oei-dokumente.de/JGO/erev/Hein-Kircher_Brandes_Lexikon_der_Vertreibungen.html (Datum des Seitenbesuchs)

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