Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 1 (2011), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Osteuropa-Instituts Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Wladislaw Hedeler

 

Dnevnik istorika S. A. Piontkovskogo (1927–1934) [Das Tagebuch des Historikers S. A. Piontkovskij (1927–1934)]. Otv. red. i vstup. stat’ja A. L. Litvina. Kazan’: Kazanskij gosudarstvennyj universitet, 2009. 515 S. ISBN: 978-5-98180-720-6.

Mit dem in einer Auflage von 300 Exemplaren aufgelegten und von Prof. A. L. Litvin eingeleiteten Buch, dessen Drucklegung vom „National Endowment fort the Humanities“ (USA) gefördert wurde, setzen russische Historiker die Publikation von Tagebüchern bedeutender Vertreter ihrer Wissenschaftsdisziplin fort. Bisher sind u. a. vergleichbare Editionen aus den Nachlässen von N. M. Družinin, Ju. V. Got’e, I. I. Minc, M. V. Nečkina und S. B. Veselovskij erschienen. Das Vorwort, das sei hier am Rande vermerkt, erzählt die ebenso aufschlussreiche wie ernüchternde Geschichte der 1965, 1976 und 1986 unternommenen, doch erfolglos gebliebenen Versuche des Herausgebers, Sergej Andreevič Piontkovskij (8. Oktober 1891 – 8. März 1937) als Wissenschaftler zu rehabilitieren. Zu den Verhinderern gehörten auch Mitarbeiter des ZK der KPdSU, die später in die von Aleksandr Jakovlev geleitete Kommission zur Rehabilitierung der Opfer politischen Terrors wechselten (S. 59).

Piontkovskij war seit Mai 1921 Professor am Lehrstuhl für Geschichte an der Kommunistischen Universität und stellvertretender Chefredakteur der Zeitschrift „Proletarskaja revoljucija“. Aus seiner Feder stammen eine Studie über die Voraussetzungen und den Verlauf sowie eine Chrestomatie von Quellen der Oktoberrevolution. 1928 wurde er zum korrespondierenden Mitglied der Kommunistischen Akademie gewählt.

Unmittelbar nach der Veröffentlichung von Stalins Brief an die Redaktion dieser Zeitschrift 1931 setzten die Angriffe auf den Lehrbuchautor und Schulbildner ein, dem „antileninistische Auffassungen“ vorgeworfen wurden. Der im Brief an die Redaktion der „Proletarskaja revoljucija“ geforderte Kampf gegen die „trotzkistische Konterbande“ und die Orientierung auf den „Kampf gegen die bürgerliche Geschichtswissenschaft“ ging in eine neue Runde. An letzterer Auseinandersetzung beteiligte sich Piontkovskij aktiv. Parallel dazu, alles das ist im Tagebuch festgehalten, versuchte er, durch „Selbstkritik“ den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Das unter Leitung von Jaroslavskij an einer Geschichte der KPdSU(B) arbeitende Autorenkollektiv, dem er angehörte, wurde auseinandergejagt, die Historiker wurden in die Provinz abgeschoben. Hier gingen die Kritik- und Disziplinierungskampagnen weiter. Am Ende der zermürbenden Kampagne stand der Beschluss des ZK der KPdSU(B) „Über den Geschichtsunterricht an Schulen“, der 1934 den von Stalin vorgegebenen Kurswechsel zur Propagierung des Aufbaus des Sozialismus in einem Land festschrieb.

Um sich ein Bild vom Ausgang der Schlacht an der Front der Geschichtswissenschaft zu verschaffen, lud Stalin eine Reihe der Historiker in den Kreml ein und unterbreitete den Vorschlag, ein neues Lehrbuch zur Geschichte der UdSSR zu erarbeiten. Piontkovskij, der zu den Auserwählten gehörte, bestand die Probe nicht. Die von I. V. Stalin, S. M. Kirov und A. A. Ždanov vorgebrachte Kritik läutete gewissermaßen das Ende von Piontkovskij ein, der am 7. Oktober 1936 verhaftet, am 3. Dezember der „Mitgliedschaft in einer trotzkistischen Gruppe“ angeklagt und am 8. März 1937 erschossen wurde.

Die im Zentralen Archiv des Föderalen Sicherheitsdienstes FSB überlieferte Akte enthält kein Verzeichnis der während der Durchsuchung der Wohnung beschlagnahmten und bald darauf vernichteten Bücher und Manuskripte (S. 47). Wir wissen nicht, schreibt der Herausgeber, ob Piontkovskij bis 1927 und nach 1934 Tagebuch geführt hat. Ein Typoskript des Tagebuches – es setzt im Herbst 1927 ein und endet mit dem Eintrag vom 23. März 1934 – wurde in der Untersuchungsakte abgelegt. Während der von Folter begleiteten Verhöre im Inneren Gefängnis der Lu­bjan­ka haben die Untersuchungsführer mehrmals die darin enthaltenen positiven Erwähnungen der Arbeiten und der Rolle Trockijs in der Revolution 1917 zitiert. Leider sind die entsprechenden Passagen und Auszüge aus der Strafakte, die der Herausgeber einsehen konnte, nicht in den Anmerkungsapparat übernommen worden.

Wladislaw Hedeler, Berlin

Zitierweise: Wladislaw Hedeler über: Dnevnik istorika S. A. Piontkovskogo (1927–1934) [Das Tagebuch des Historikers S. A. Piontkovskij (1927–1934)]. Otv. red. i vstup. stat’ja A. L. Litvina. Kazan’: Kazanskij gosudarstvennyj universitet, 2009. ISBN: 978-5-98180-720-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Hedeler_Litvin_Dnevnik_istorika_S_A_Piontkovskogo.html (Datum des Seitenbesuchs)

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