Vladimir L. Genis: Nevernye slugi režima. Pervye sovetskie nevozvraščency (1920–1933). Opyt dokumental’nogo issledovanija v 2-ch knigach. Kniga 1. „Be­žal i perešel v lager’ buržuazii …“ (1920–1929) [Die untreuen Diener des Regimes. Die ersten sowjetischen Nichtrückkehrer (1920–1933). Ergebnisse einer Dokumentaruntersuchung in zwei Bänden. Band 1: „Geflohen und in das Lager der Bourgeoisie übergelaufen …“ (1920–1929)]. Moskva: IPK Informkniga, 2009. 700 S., Abb. ISBN: 978-5-8107-0238-2.

Vladimir Genis (geb. 1957), legt mit dem in einer Auflage von 300 Exemplaren erschienenen Band 22 biographische Skizzen über Partei-, Wirtschafts- und Kominternfunktionäre vor, die Sowjetrussland zwischen 1920 und 1929 den Rücken gekehrt und es vorgezogen haben, im Ausland zu bleiben. Die Quellen, auf die er sich stützt, sind zeitgenössische sowjetische und ausländische Publikationen, Memoiren sowie Dokumente aus dem Staatsarchiv der Russischen Föderation (GARF), dem Staatsarchiv für Wirtschaftsgeschichte (RGAĖ) und dem Archiv für Sozialpolitische Geschichte (RGASPI). Einige in den Band aufgenommene Fotos sind aus Strafakten, die im Zentralen Archiv des FSB aufbewahrt werden, entnommen. Die Dokumente werden referiert oder von Fall zu Fall im Wortlaut übernommen. Eine thematische oder chronologische Anordnung der Skizzen ist nicht zu erkennen. Hinweise auf in Russland oder im Ausland verfasste Arbeiten über einige der aufgenommenen Personen (stellvertretend seien hier Angelica Balabanoff, Jakov Reich und Mark Brojdo genannt) finden sich in den Fußnoten nicht.

Bei den berücksichtigten Personen handelt es sich um Diplomaten wie den Botschafter in Kabul Nikolaj Bravin, die Mitarbeiter der Handelsvertretungen in Berlin Edmund Cerer, Petr Petrov sowie Markus Šuchgalter bzw. in der Türkei Ibragim Ibragimov; Wirtschaftsfunktionäre wie den Bevollmächtigten des Azneftkom Ivan Azrilenko, den stellvertretenden Volkskommissar für Außenhandel Georgij Solomon, den Wirtschaftsfachmann Nikolaj Orlov, den Vorsitzenden der Londoner Außenhandelsgesellschaft Aleksandr Kvjatkovskij, die Außenhändler Semen Liberman und Jurij Lomonosov; Kominternmitarbeiter wie Jakov Reich und Angelica Balabanoff; Militärs wie Ignatij Dzevjaltovskij; einfache Leute wie Jakov Bad’jan, sowie Dichter, Künstler und Kulturschaffende wie Aleksandr Jaroslavskij, Roman Jakobson, Samuil Pevzner. Das fast 100 Seiten umfassende annotierte Personenregister (S. 618700) enthält Hinweise auf Aberdutzende weitere „Nichtrückkehrer“, deren Geschichte in den aufgenommenen biografischen Skizzen nur beiläufig erwähnt oder angedeutet wird.

Aufnahme in den Band, dem weder eine Einführung voran-, noch ein Resümee nachgestellt ist, fanden – was man dem Titel nach nicht vermutet – auch Skizzen über Diplomaten wie Adam Semaško, die in der Hoffnung, Wiederaufnahme zu finden, reumütig in die UdSSR zurückkehrten, oder Boris Zul’, der sich vertrauensvoll an Stalin wandte, und die ihre Entscheidung mit dem Leben bezahlten. Nicht anders erging es dem Mitbegründer der Komintern Andrej Rudnjanskij, dem ebenfalls eine Skizze gewidmet ist. Auf zwei mit „Anstelle eines Nachwortes“ (S. 616617) überschriebenen Seiten wird kurz auf die Zäsur von 1929 eingegangen. Die Reorganisation des Staatsapparates und die Androhung schwerster Strafen für „Überläufer ins Lager des Feindes“ lösten eine flutartige Fluchtbewegung aus. Genau genommen ist dies eine Überleitung zum angekündigten 2. Band, der die Fluchtbewegung in den Jahren 19291933 zum Inhalt hat.

Wer verallgemeinernde Aussagen über Motiv- oder Konfliktlagen der „Nichtrückkehrer“, Hinweise auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Abhängigkeit vom Tätigkeitsbereich erhofft, wird von dieser Sammlung, die eher mit einer ersten Bestandsaufnahme vergleichbar ist, enttäuscht sein. Dabei hätte Genis unter Einbeziehung seiner eigenen Recherchen den Bericht für eine Beratung des Sekretariats des ZK der KPdSU(B) vom August 1928 fortschreiben können, den er in „Anstelle eines Vorwortes (S. 48) zitiert. Die politische Polizei gab die Zahl der zwischen 1921 und 1928 im Ausland gebliebenen Sowjetbürger mit 123 an; 18 von ihnen waren Mitglieder der Kommunistischen Partei. Die meisten, insgesamt 67, blieben in Deutschland. Aus einem darauf folgenden Bericht vom 5. Juni 1930 geht hervor (S. 6), dass die Zahl der im Ausland gebliebenen auf 277 angewachsen war. Den meisten wurden niedere Motive, Amtsmissbrauch oder Unterschlagung vorgeworfen. Wie die Kampagnen und in einigen Fällen Mordkomplotte gegen die Abtrünnigen in der Sowjetunion vorbereitet und ausgeführt wurden, ist nur einigen der Skizzen zu entnehmen.

Wladislaw Hedeler, Berlin

Zitierweise: Wladislaw Hedeler über: Vladimir L. Genis: Nevernye slugi režima. Pervye sovetskie nevozvraščency (1920–1933). Opyt dokumental’nogo issledovanija v 2-ch knigach. Kniga 1. „Be­žal i perešel v lager’ buržuazii …“ (1920–1929) [Die untreuen Diener des Regimes. Die ersten sowjetischen Nichtrückkehrer (1920–1933). Ergebnisse einer Dokumentaruntersuchung in zwei Bänden. Band 1: „Geflohen und in das Lager der Bourgeoisie übergelaufen …“ (1920–1929)]. Moskva: IPK Informkniga, 2009. 700 S., Abb. ISBN: 978-5-8107-0238-2, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/Rez/Hedeler_Genis_Nevernye_slugi_rezima_1.html (Datum des Seitenbesuchs)

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