Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 1 (2011), 3 Rezensionen online

Verfasst von: Wladislaw Hedeler

 

Stiven Koėn [Stephen Cohen]: Dolgoe vozvraščenie. Žertvy GULAGa posle Stalina [Die lange Rückkehr. Die Opfer des GULAG nach Stalin]. Perevod s anglijskogo Iriny Davidjan. Moskva: AIRO XXI; Novyj chronograf, 2009, 143 S. = Pervaja publikacija v Rossii. ISBN: 978-5-91022-100-4.

Ein erster Artikelentwurf zum Thema der Rückkehr von Gulag-Häftlingen aus der Haft an ihre Heimatorte, den Stephen Cohen in seinem Archiv aufbewahrt, ist mit 1983 datiert. Nachdem es ihm 1976 gelungen war, Kontakt zu Anna Larina, der Witwe des 1938 verurteilten Nikolaj Bucharin, herzustellen, begann er während seiner Besuche in Moskau, Material zu sammeln und mit ehemaligen Häftlingen und ihren Angehörigen zu sprechen. Daraus sollte eine Kollektivbiografie der Überlebenden des Gulag hervorgehen. Im Westen gab es – mit Ausnahme von Aleksandr Solženicyns „Archipel“ – keine Publikationen, die ‚das Leben danach‘, nach Stalins Tod, aus der Perspektive von Sowjetbürgern schilderten. Interviewpartner waren es, die Cohen veranlassten, Sozial-und Politikgeschichte zu verknüpfen und den durch die Totalitarismusdoktrin vorgegebenen Rahmen zu sprengen. Der Streit über die Vergangenheit war Teil des Kampfes um die Macht, die Entstalinisierung von oben erklärt sich nur aus der in Bewegung geratenen Basis (S. 13).

Nicht nur Larina, auch Roj Medvedev und Anton Antonov-Ovseenko versorgten Cohen mit Material. In zwei Jahren gelang es ihm, mit über zwanzig Häftlingen bzw. deren Angehörigen zu sprechen. So konspirativ er auch vorging, 1982 war Schluss. Da er die Empfehlung des ihn beschattenden KGB-Mannes, die „Kontakte zu den gegenüber der Sowjetmacht illoyal eingestellten Bürgern zu unterlassen“, nicht befolgte, erhielt er drei Jahre lang kein Einreisevisum mehr. Da ihn die Ereignisse in der Sowjetunion, die 1985 ihren Anfang nahmen, fesselten, stellte er die Arbeit an der Materialsammlung ein und wandte sich einem neuen Thema – der Perestrojka – zu. Erst 2007, als er um einen Beitrag für die Festschrift aus Anlass des 90. Geburtstages von Robert Conquest gebeten wurde, entschloss er sich, den Artikelentwurf zu überarbeiten.

Auf den Bericht über die Quellenlage (S. 12–22) folgen „Die Befreiung“ (S. 23–31) und „Die Opfer kehren zurück“ (S. 32–46). Darin geht es um die Zeitspanne zwischen der Berija-Amnestie 1953, dem 20. Parteitag 1956 und der Auflösung der Lager Anfang der 1960er Jahre. Wie viele das Lager überlebt haben oder es vorzogen, am Haftort zu bleiben, weil sie dort Arbeit und Freunde hatten, ist unbekannt; die Ursachen für das Überleben sind mannigfaltig und nicht auf einen einfachen Nenner zu bringen. Die einen starben schon kurz nach ihrer Entlassung, anderen war ein langes Leben beschieden. Die einen schwiegen, die anderen nahmen kein Blatt vor den Mund. Auch politische Verallgemeinerungen taugen nicht. Die einen wurden zu Dissidenten, andere erkämpften ihre Wiederaufnahme in die Partei, dritte machten Karriere als Wissenschaftler, Geistliche oder Künstler. Die einen wurden berühmt, andere starben in Einsamkeit; es gab Konflikte unter den ehemaligen Häftlingen, hier sei nur an den zwischen Solženicyn und Varlam Šalamov über die Beschreibung der Lagerzeit erinnert. Egal, ob die Sowjetmacht, Stalin oder die Partei von ihnen verantwortlich gemacht oder von der Verantwortung freigesprochen wurden, sie waren eine wichtige Größe im Leben der sowjetischen Gesellschaft (S. 35).

Die meisten Häftlinge gingen auf den von der Regierung angebotenen ‚Gesellschaftsvertrag‘ ein: Wir entsprechen euren Forderungen nach Wiedergutmachung, ihr verzichtet dafür auf eine politische Kritik an der Vergangenheit (S. 36). Doch das war weder ein leichter noch ein automatischer Prozess. Die Reaktion der Gesellschaft und der Bürokratie war in der Amtszeit von Nikita Chruščev ebenfalls uneinheitlich. „… 1965 wurde deutlich, das im Land ein tiefgehender Konflikt zwischen zwei Bevölkerungsgruppen – den Opfern und den Tätern – heranreift.“ (S. 42) Zwei Russland – die Bewohner der „großen“ und die der „kleinen Zone“ trafen aufeinander.

Chruščev und Mikojan waren die einzigen Gefolgsleute Stalins in der Partei- und Staatsführung, die Reue zeigten (S. 49). Auch wenn sie die Entstalinisierung nicht vehement vorantrieben, konnten sie diese doch zur Festigung der eigenen Machtposition nutzen (S. 50). „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ konnte erscheinen und Stalin wurde aus dem Mausoleum entfernt. Doch die Mehrheit der Funktionsträger des Regimes leistete aktiven Widerstand gegen Chruščev (S. 56). Sein Sturz ging mit der Wiederbelebung des Konservativismus unter Leonid Brežnev einher. Eine Büste für Stalin wurde in Moskau hinter dem Mausoleum auf dem Roten Platz aufgestellt, Solženicyn ausgebürgert.

Zu den zahlreichen ‚Signalen‘, die kurze Zeit nach Gorbačevs Amtsantritt den neuen Kurs markierten, gehörte die Rehabilitierung Chruščevs. Doch die materielle Situation der einstigen Opfer änderte sich nicht, es wurde auch kein ‚zweites Nürnberg‘ veranstaltet, um mit den noch lebenden Tätern abzurechnen (S. 73). Unter Boris Jelzin erfolgte die formale Rehabilitierung aller seit 1917 politisch Verfolgten; einen zentraler Gedenkort, von dem unter Chruščev und Gorbačev die Rede war, gibt es bis heute nicht. Putins Haltung schätzt Cohen als „widersprüchlich“ ein (S. 76) und fasst zusammen, dass die Zeit noch nicht gekommen sei, einen Schlussstrich unter die Geschichte der „langen Rückkehr“ zu ziehen.

Wladislaw Hedeler, Berlin

Zitierweise: Wladislaw Hedeler über: Stiven Koėn [Stephen Cohen]: Dolgoe vozvraščenie. Žertvy GULAGa posle Stalina [Die lange Rückkehr. Die Opfer des GULAG nach Stalin]. Perevod s anglijskogo Iriny Davidjan. Moskva: AIRO XXI; Novyj chronograf, 2009. = Pervaja publikacija v Rossii. ISBN: 978-5-91022-100-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Hedeler_Cohen_Dolgoe_vozvrascenie.html (Datum des Seitenbesuchs)

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