Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Wladislaw Hedeler

 

Oleg Chlewnjuk: Stalin. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm. München: Siedler, 2015. 590 S., Abb. ISBN: 978-3-8275-0057-1.

Die letzte, 1998 in deutscher Übersetzung erschienene Publikation von Oleg Chlewnjuk hatte die Untersuchung der Mechanismen der Macht in der Sowjetunion der dreißiger Jahre zum Inhalt. Der damals im Russischen Staatsarchiv für gesellschaftliche und politische Geschichte arbeitende Historiker wertete die ihm zugänglichen Dokumente des Politbüros der KPdSU(B) aus. Seit den Perestroika-Jahren gehört er zu den Herausgebern zahlreicher russischer Quelleneditionen und zählt zu den besten Kennern der im Führungszirkel um Stalin produzierten Dokumente. Mit seiner neuen Studie über „das Leben eines Führers“ wendet er sich der Hauptperson in der Partei- und Staatsführung der UdSSR zu. Die Ausgabe in russischer Sprache erschien 2015 mit Unterstützung des Deutschen Historischen Instituts in Moskau. Bei der in der Bundesrepublik verlegten Ausgabe handelt es sich um eine von Jan Plamper als Fachberater betreute Übersetzung aus dem Englischen.

Während sich Chlewnjuk in der Einführung des in Russland veröffentlichten Buches an seine Landsleute wendet, will er mit dem der Ausgabe im Siedler-Verlag vorangestellten Vorwort die Leser im Ausland ansprechen. Es sind unterschiedliche Zielgruppen mit spezifischen Erwartungen, Lesegewohnheiten und Erinnerungskulturen. Das erklärt, wieso zahlreiche Passagen aus der Einführung der russischen nicht in das Vorwort zur englischen und damit auch zur deutschen Buchfassung übernommen wurden. In Russlands Buchläden mangelt es nicht an pseudowissenschaftlicher Literatur über Stalin und seine Zeit in preiswerten Massenauflagen, in den Medien wird der siegreiche Feldherr glorifiziert. In dieser Situation muss Chlewnjuk seinen wissenschaftlichen Maßstäben entsprechenden und provokanten Zugang zum „Leben eines und nicht des Führers“ entwickeln, propagieren und verteidigen, „russischen“ Lesegewohnheiten und Erwartungen Rechnung tragen und die nach wie vor vorhandenen Leerstellen in der Biographie begründen. Leider ist dieses für die Argumentation und den Aufbau des Buches relevante Anliegen im Vorwort der vorliegenden Übersetzung aus dem Englischen kaum noch erkennbar.

Die meisten der an den Leser oder die Leserin in Russland gerichteten Passagen sind nicht übernommen, Verweise auf Bücher russischer Historiker getilgt oder zusammengestrichen bzw. durch andere, in der russischen Fassung nicht enthaltene Ausführungen ersetzt worden. Das ist eine Entscheidung des Autors, mit der man leben muss, auch wenn sie in ihrer Ausführung nicht immer gelungen ist. „Diese Biographie“, ist in der Siedler-Ausgabe zu lesen, „ist der Kulminationspunkt vieler Jahre der Forschung über die Geschichte der Sowjetunion, Jahre, die von Zusammenarbeit und Freundschaft mit vielen kenntnisreichen Kollegen geprägt waren.“ Chlewnjuks Publikationen sind auch ein Spiegelbild der Archivsituation in Russland. Je nach Zugangsmöglichkeiten zu Archiven und dem Auf und Ab der Öffnung und Schließung von Aktenbeständen veröffentlicht er seit 1993 in unregelmäßigen Abständen Studien über Stalin und dessen Umgebung, die beständig ergänzt und ausgebaut wurden und werden. Die Leitlinien, denen der Verfasser dabei folgt, haben sich seit Jahren nicht geändert. Im Politbüro gab es weder „Falken“ noch „Tauben“, wie die „Revisionisten“ unter den Historikern im Unterschied zu den Vertretern der Totalitarismustheorie behaupteten. Im Abschnitt Was beabsichtigte Stalin? des 4. Kapitels der russischen Ausgabe fasst Chlewnjuk seine Polemik gegen die Revisionisten zusammen und zeigt, wie deren haltlose Argumente heute von Stalinisten in Russland aufgegriffen werden, um den Generalsekretär von der Verantwortung für den Terror ‚freizusprechen‘. Diese Ausführungen finden sich in der Übersetzung nicht. Hier folgt auf den Abschnitt War alles Jeshows Schuld? derjenige über Die Suche nach Verbündeten.

Mit seinem Buch legt Chlewnjuk eine Bestandsaufnahme der Stalinismusforschung vor, wobei er Interpretationsmuster russischer und ausländischer Kollegen vergleicht. Wie bereits angemerkt, erschließt sich dieser Vergleich nur jemandem, der Zugang zur russischen Ausgabe hat. So fallen in der deutschen Ausgabe Verweise auf Bücher von Wladlen Loginow oder Alexander Ostrowski, um nur zwei Autoren zu nennen, deren Publikationen über den jungen Stalin oder die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Auffassungen von Lenin und Stalin für Chlewnjuk von Bedeutung sind, knapper aus. Die Sprachbarriere erklärt die vielen Hinweise auf Publikationen in englischer oder in deutscher Sprache. Bedauerlich ist, dass ungeachtet der Fachberatung in der englischen Ausgabe enthaltene Fehler wie die Verwechslung von Parteitagen und Parteikonferenzen nicht korrigiert worden sind. Auf die Neuübersetzung von Passagen aus in Deutschland publizierten Quellen, etwa der Dimitroff-Tagebücher oder der Ausgabe der Werke Lenins, hätte verzichtet werden können. Der Mehrfachübersetzung sind, auch das sei angemerkt, Nuancen, auf die Chlewnjuk wert legt, zum Opfer gefallen. Das trifft nicht nur auf Bemerkungen über Stalin, sondern auch über Lenin am Vorabend des Oktober-Umsturzes 1917 zu. Die Kapitelüberschrift Der rechte Bolschewik wurde in der Übersetzung durch In Lenins Schatten ersetzt. Der Einschätzung, Stalin sei schlau, hätte Lenin gewiss nicht widersprochen. Seiner Meinung nach fehlte es Stalin nicht an Schläue, sondern an Klugheit. Warum die „Auffassungen“ des „Maulhelden Stalin“ mehrfach als „Philosophie“ übersetzt worden sind, ist schwer nachvollziehbar.

Stalins Herrschaft basierte auf Furcht, sein politisches Unternehmen auf Terror. Der Hitler-Stalin-Pakt und Katyn sind nur zwei Beispiele für von Chlewnjuk angesprochene Themen, die in Russland immer noch wider besseres Wissen verfälscht werden. Der Verfasser, um es ein letztes Mal hervorzuheben, schreibt – mit Blick auf die russischen Leser – dagegen an. Kein Wunder, dass Rezensenten, für die das kein Thema mehr ist, ihrer Enttäuschung über den kargen Neuwert der Biographie Ausdruck verleihen und es dabei belassen, von „banalen Erkenntnissen“ zu sprechen. Verlag und Autor, die sich auf den Versuch einer redaktionellen Überarbeitung der Vorlage geeinigt haben, müssen mit dieser Kritik leben.

Wladislaw Hedeler, Berlin

Zitierweise: Wladislaw Hedeler über: Oleg Chlewnjuk: Stalin. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm. München: Siedler, 2015. 590 S., Abb. ISBN: 978-3-8275-0057-1, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Hedeler_Chlewnjuk_Stalin.html (Datum des Seitenbesuchs)

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