Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Hans Hecker, Düsseldorf

 

Istorija subektivnosti. Drevnjaja Rus. [Geschichte der Subjektivität. Die alte Rus] Sost. [Hrsg.] Ju. P. Zareckij. Moskva: Gaudeamus, 2010. 348 S. ISBN: 978-5-98426-106-7.

Der Herausgeber dieses Buches, Doktor der Geschichtswissenschaften und Professor am Lehrstuhl für Geschichte der Philosophie an der Staatlichen UniversitätHochschule für Ökonomie Moskau / Russische Staatliche Universität für Geisteswissenschaften Moskau, ist in seinen zahlreichen Veröffentlichungen insbesondere mit Arbeiten zum Problem der Individualität und des Selbstverständnisses von Persönlichkeiten des Mittelalters und der Renaissance hervorgetreten. Dabei hat er sowohl über russische als auch westeuropäische Selbstzeugnisse geschrieben, z.B. über Enea Silvio Piccolomini, den späteren Papst Pius II., und mehrfach hat er seinen Blick auf ganz Europa gerichtet, so in dem Buch überDas autobiographische Ich von Augustinus bis Avvakum(russ., 2002). Es passt dazu, dass Zareckij, der auch in Westeuropa publiziert hat, in Zusammenarbeit mit dem DHI Moskau auf der Grundlage des StandardwerkesGeschichtliche Grundbegriffeein Projekt zur Begriffsgeschichte betreibt, das von der VW-Stiftung gefördert wird.

In dem vorliegenden Band, der unter der Ägide des Instituts für Allgemeine Geschichte der Akademie der Wissenschaften erschienen ist, geht es um Selbstzeugnisse aus der Geschichte Altrusslands. Ausgehend von Literaturwissenschaftlern wie M. M. Bachtin, A. Ja. Gurevič, V. A. Gusev, E. V. Krušelnickaja und S. A. Zenkovskij sowie etlichen weiteren Autoren entwickelt Zareckij seinen ausdrücklich kulturgeschichtlichen Ansatz, den er in seinem einleitenden Aufsatz Und über mich gebe ich Kunde. Russische mittelalterliche autobiographische Erzählungen(I o mne tvorju izvestie: Russkie srednevekovye avtobiografičeskie rasskazy) erläutert. Er bezeichnet die schriftliche Äußerung des mittelalterlichen Autors über sich selbst, für die er unter den verschiedenen Möglichkeiten den BegriffEgodokumentbevorzugt, als Akt seiner Selbstidentifikation. Es kommt Zareckij darauf an, die Selbstdarstellung des Autors in seiner historischen Situation und in seinen sozialen Bezügen zu betrachten und daraus einen Innen-Blick in die Kulturgeschichte der Epoche zu gewinnen. Dazu geht er den Fragen nach: Wer schreibt? Wie stellt der Autor sich dar? Welche Intentionen, möglicherweise weiterreichende Überlegungen lassen sich erkennen? Für wen schreibt er? Diese Fragen fasst er in der Dreier-Beziehung Autorsein SelbstbildLeser zusammen. Beim Autor istwirklich‘ nicht das, was er beschreibt, sondern ‚wirklich‘ sind seine Gedanken und Gefühle, also der subjektive Gehalt seiner Äußerungen. Im Selbstbild, das der Autor entwirft, spiegeln sich das Verhältnis zu den Anderen und damit kulturhistorische Aspekte der Zeit wider. Den Leser bzw. Adressaten der autobiographischen Erzählung bezeichnet Zareckij als den wichtigsten Posten in dem kulturhistorischen Dreieck. Denn dessen Position und Reaktion gegenüber dem Autor ermöglicht den tiefsten Einblick in das Innere der Kulturbeziehungen. Aber, und diesesaberist dick zu unterstreichen, der Adressat bildet auch den schwierigsten Teil in dem Programm, da er am seltensten festzustellen ist. Wenn überhaupt, dann kann man ihn nur durch eine indirekte Rekonstruktion in Umrissen ausmachen. Die unmittelbare Ansprache des Adressaten und dessen Antwort, wie im Briefwechsel Ivans IV. mit Andrej Kurbskij, sind eine Ausnahme.

Zareckij legt die methodischen Schwierigkeiten seines kulturhistorischen Programms ausführlich dar, und dazu gehört von vornherein die Identität von Autor undHeld‘ der autobiographischen Erzählung. Da es sich um einen individuellen Selbstentwurf handelt, der sich an einen mehr oder minder großen Kreis von Rezipienten, also an eine wie auch immer beschaffene Öffentlichkeit, richtet, zeichnet der Autor ein Bild davon, wie er gesehen werden will. Die Neigung zur Selbststilisierung oder gar Selbst-Hagiographie (avtoagiografija), die daher zunächst einmal vorausgesetzt werden muss, fordert von der Kritik die genaue Unterscheidung zwischen dem Topos und der wirklich individuellen Äußerung. Dabei, so muss dazu angemerkt werden, lässt auch die Auswahl der verwendeten Topoi Rückschlüsse auf die Selbstidentifizierung des Autors in seinen Äußerungen zu.

Die für diesen Band ausgewählten Beispiele (11./12.17. Jh.) sind Texte von den Herrschern Vladimir Monomach und Ivan IV., von den Mönchen Martirij Zeleneckij, Eleazar Anzerskij und Epifanij sowie von dem Führer der Altgläubigen, dem Protopopen Avvakum. Die beiden ersten Texte sind in modernes Russisch übersetzt, die anderen werden im nur leicht angeglichenen Original geboten. Jeder Text wird mit einer knappen historischen Einordnung und ein paar Literaturhinweisen eingeleitet. Aufsätze von D. S. Lichačev über Vladimir Monomach, von E. V. Krušelnickaja über Martitij Zeleneckij, von S. A. Zenkovskij über Epifanij und P. Hunt über Avvakum sowie eine Bibliographie von übersichtlicher Länge runden den Band ab. Für die Arbeit mit fortgeschrittenen Studierenden, an die es sich in erster Linie wendet, aber auch für einen weiteren Kreis von Interessenten ist das Buch sehr gut geeignet.

Hans Hecker, Düsseldorf

Zitierweise: Hans Hecker, Düsseldorf über: Istorija sub”ektivnosti. Drevnjaja Rus’. [Geschichte der Subjektivität. Die alte Rus’] Sost. [Hrsg.] Ju. P. Zareckij. Moskva: Gaudeamus, 2010. 348 S. ISBN: 978-5-98426-106-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Hecker_Zareckij_Istorija_subektivnosti_Drevnjaja_Rus.html (Datum des Seitenbesuchs)

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