Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Hans Hecker

 

Istorija i istoriki. Istoriografičeskij vestnik. 2011–2012. Otv. red. A. N. Sacharov. Moskva: Nauka, 2013. 351 S. ISBN: 978-5-8055-0257-7.

Der Doppelband für die Jahre 2011 und 2012, der 46. Band der vom Institut für russische Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Reihe, ist in fünf Abteilungen gegliedert. Den Beginn der ersten Abteilung unter dem Titel Allgemeine Probleme der Geschichtswissenschaft macht D. G. Ditjakins Beitrag über die Entstehung der Rus in der vorrevolutionären Historiographie. In seiner knappen, lehrbuchartigen Darstellung mit der bemerkenswerten Feststellung, Montesquieu habe in den germanischen Völkern die Begründer der europäischen Zivilisation und die Träger von Staatlichkeit und Freiheit gesehen, legt er Wert auf die Unterscheidung zwischen den „germano­zentrischen“ Russlandhistorikern wie Schlözer oder Müller und den russischen wie Karamzin oder Solevev und akzentuiert die Diskussion um die Bedeutung der Normannen für die Errichtung staatlicher russischer Herrschaftsbildung. Abschließend erwähnt er die 1150-Jahr-Feier des russischen Staates von 2012 und stellt dazu fest, dass sie nicht nur von der russischen Zentralbank durch eine spezielle Serie von Banknoten gewürdigt worden sei, sondern dass die heutigen Historiker im Unterschied zu dem sozioökonomisch-klassenkämpferischen Ansatz der sowjetischen Geschichtsschreibung wieder, wie ihre vorrevolutionären Vorgänger, die staatsmännischen Leistungen Rjuriks und seiner Nachfolger würdigten. – Zwei Beiträge beschäftigen sich mit der Historiographie zur Kirchengeschichte. V. V. Lobanov stellt die neuen Forschungen zur „erneuernden“ Kirchenspaltung („obnovlečenskij“ raskol) der Jahre 1922–1940 vor. In den kontroversen Diskussionen geht es auch um die Frage nach dem Verhältnis dieser Abspaltung zur vorrevolutionären Erneuerungsbewegung in der russisch-orthodoxen Kirche. Ebenfalls äußerst umfangreiches Material referiert M. V. Škarovskij in seiner Übersicht zu Literatur und Quellen über die russisch-orthodoxe Kirche und die sonstigen Konfessionen während des Großen Vaterländischen Krieges. – Eines Themas, das in der sowjetischen Historiographie geradezu als Verschlusssache galt, nimmt sich V. N. Zemskov mit seinem Aufsatz über die sowjetischen „displaced persons“ am Ende des Zweiten Weltkrieges an. Kritik an Veröffentlichungen emigrierter Historiker wie M. Heller und A. Nekrič verbindet er mit dem Ansatz, aufgrund von Archivmaterial und systematischer Gliederung der betreffenden Personengruppen deren „Repatriierung“ und den späteren Umgang der Sowjetmacht mit ihnen in einem sachlich-milderen Licht erscheinen zu lassen. – Den Abschluss der Allgemeinen Probleme bildet V. V. Tichonov mit seiner interessanten kleinen Untersuchung zu der Frage, welche Rolle die „kleinen Leute“ in der sowjetischen Geschichtswissenschaft nach dem Kriege spielten, welche Ängste und Motive sie bestimmten, oder ob sie nur als Figuren in einem undurchschaubaren Spiel dienten.

In der zweiten Abteilung werden, wie üblich, Historiker mit ihren Werken vorgestellt, und wiederum wie üblich gilt die erste Aufmerksamkeit V. O. Ključevskij. Weitere Aufsätze berichten über die Familie A. S. Lappo-Danilevskijs als wissenschaftlichen Mikrokosmos, S. F. Oldenburg und M. K. Ljubavskij. M. A. Bazanov vermittelt einen aufschlussreichen Eindruck von den ideologischen Zwangsjacken der Historiker der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, und zwar am Beispiel keines geringeren als des großen Mediävisten A. A. Zimin, der in seiner Untersuchung zum Igor-Lied die Frage der Fälschung aufgeworfen hatte. Sein 1964 gestellter Antrag auf Publikation wurde auf Veranlassung der Ideologie-Abteilung des ZK der KPdSU von der Akademie-Leitung abgelehnt, weil er höchstes russisches Kulturgut durch seine gedanklichen Konstruktionen herabgewürdigt habe. Das Manuskript wurde unter Verschluss gehalten und erst 42 Jahre später, 26 Jahre nach Zimins Tod, im Jahre 2006 veröffentlicht.

Dritte Abteilung: Bücherschau. V. V. Tichonov referiert hier über einen Sammelband, der mit Beiträgen junger Wissenschaftler eine „neue Sicht auf Probleme der russischen Historiographie“ von der Mitte des 19. bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts, was sowohl im Text als auch im Inhaltsverzeichnis mehrfach falsch bezeichnet ist, bieten soll. Zunächst geht es um Forschungen zum sozial-ökonomischen Milieu der Altgläubigen aus der Sicht der Regierung, der Wissenschaft und der Publizistik von der Mitte des 19. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts; dabei wird der weitreichende komparatistische Ansatz mit seinen Bezügen auf W. Sombart und M. Weber hervorgehoben. – Auf eine Erörterung der Arbeiten M. I. Rostovcevs zur römischen Geschichte aus der Zeit vor seiner Emigration folgt die Vorstellung einer – längst fälligen – wissenschaftlichen Biographie N. I. Kareevs, eines der bedeutendsten Historikers des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die hier nur die Jahre vom Beginn der bolschewistischen Herrschaft 1917 bis zu Kareevs Tod 1931 betrifft; die Mitteilung, dass er in dieser Zeit „unter den neuen Bedingungen“ an seinen wissenschaftlichen und Lebensprinzipien festgehalten habe, ist so richtig wie wenig überraschend. – Die russische Stalinismus-Forschung ist gewiss noch nicht an ihr Ende gelangt, und sie sollte sowohl die Argumente der Stalin-Verteidiger („Stalin vor einem Gericht von Pygmäen“) als auch seine Beurteilung im Internet berücksichtigen. – Schließlich gehören die Rolle des Positivismus sowie die Einflüsse seitens der westlichen, insbesondere der deutschen Historiographie auf die „vaterländische Geschichtsschreibung“ zu den aktuell diskutierten Themen. – Insgesamt werden die Arbeiten der jungen Historiker als wichtig, schwerwiegend und anregend bewertet.

In dem zweiten Aufsatz dieser Abteilung befasst sich O. V. Bolšakova mit dem, was neudeutsch „transnational turn“ heißt, um dem uralten Problem „Russland und der Westen“ mit einem neuen methodologischen Ansatz zu Leibe zu rücken. Im Kontext der von ihr gesichteten amerikanischen Literatur referiert sie die Bücher von Katerina Clark (Moscow, the Fourth Rome. Stalinism, Cosmopolitism, and the Evolution of Soviet Culture, 1931–1941. Cambridge, MA 2011) und Michael David-Fox (Showcasing the Great Experiment. Cultural Diplomacy and Western Visitors to the Soviet Union, 1921–1941. Oxford 2011). Es kommt Bolšakova darauf an, die Vorstellung von Russland bzw. der Sowjetunion, zumal in der Phase des sich entfaltenden Stalinismus, von einem traditionell strikt isolierten Land infrage zu stellen. Den kulturologischen, bei Clark literaturwissenschaftlich geprägten Ansatz der Amerikaner greift sie auf, um die begriffliche Dichotomie Russland – Westen mit ihrer Zuweisung geographisch-politischer und ideologischer Abgrenzungen, d. h. auch aus ihrer europazentrischen Festlegung, differenzierend aufzulösen und global auszuweiten. Die Sowjetunion der dreißiger Jahre erscheint als ein Staat, der sich konzentriert und zugleich weltweite Autorität gewinnt, Moskau – nicht zuletzt dank der Immigranten aus aller Welt – als kosmopolitisches Zentrum der einzigen Macht, die dem Faschismus entgegentritt. Das Ganze wird von den Besuchern aus dem Westen als spannendes historisches Experiment betrachtet, das naturgemäß weit über die Grenzen des Sowjetstaates hinaus wirkt. Bolšakova hat zwei nicht unumstrittene, auf jeden Fall jedoch hochinteressante, anregende Werke aus der Feder amerikanischer Wissenschaftler in die russische Debatte eingebracht, weil sie hier einen Weg sieht, tradierte Stereotypen und Festlegungen kritisch zu überprüfen.

Unter der erstmals erscheinenden Überschrift Erinnerungen an unsere Lehrer und Kollegen berichtet zunächst M. S. Zinič über ihren Vater Stefan. Der gebürtige Kroate wanderte vor dem Ersten Weltkrieg in die USA aus, wurde aktives Mitglied der kommunistischen Partei und ging 1931 in die Sowjetunion, wo er nicht nur für die kommunistische jugoslawische Emigration führend wirkte, sondern auch eine wissenschaftliche Karriere aufbaute. Dass er die Geschichte des Balkans zu seinem Schwerpunkt machte, lag nahe; dementsprechend schrieb er seine Doktor-Dissertation über den Illyrismus im 19. Jahrhundert. – Ju. A. Petrov und I. M. Puškareva bieten einen Überblick zu Leben und Werk von Valerij Ivanovič Bovykin, der mit seinen quellenkundlichen, archivarischen und wirtschaftshistorischen Arbeiten nicht nur „Schule bildend“ wirkte und zahlreichen „Schülern“ zu Karriere und Ansehen verhalf, sondern auch an etlichen ausländischen Universitäten lehrte und internationale Reputation genoss. – Natalija Michajlovna Pirumova hatte, wie G. N. Uljanova schreibt, während der ersten Jahrzehnte ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit über bedeutende russische Oppositionelle des 19. Jahrhunderts wie Herzen oder Kropotkin gearbeitet. Es lag nahe, dass sie schließlich mit dem Thema GULag an die wissenschaftliche Öffentlichkeit ging, wozu sie nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion mit Hilfe ihrer Kontakte ins Ausland eine internationale Konferenz organisierte. – V. U. Durnovcev schildert die Rolle und Bedeutung von Viktor Aleksandrovič Muravcev, der, zum Umkreis beispielsweise von S. O. Šmidt und V. E. Illerickij gehörend, in der methodologischen Entwicklung der russischen Geschichtswissenschaft eine zentrale Rolle spielte, gerade auch in der Zeit des Systemwechsels in den neunziger Jahren. Besondere Aufmerksamkeit widmete er Rezensionen und Artikeln für wissenschaftliche Enzyklopädien, die er geradezu als eigene historiographische Disziplinen betrachtete. – Den Abschluss bildet eine von M. G. Vandalkovskaja eingeleitete Dokumentation, und zwar Auszüge aus dem Tagebuch von Aleksandr Alek­sand­rovič Kizevetter. Das Mitglied des ZK der Kadettenpartei wurde nach 1918 dreimal verhaftet und gehörte dann zu einer Gruppe Intellektueller, die 1921 ins Prager Exil gingen, wo er dann 1933 starb. Wissenschaftlich hatte sich der Schüler V. I. Geres, V. O. Ključevskijs und weiterer „bürgerlicher“ Historiker mit sozialgeschichtlichen Themen des 18. Jahrhunderts befasst. – Allen Beiträgen zur Geschichte der russischen Geschichtswissenschaft sind umfangreiche Anmerkungsapparate beigegeben, die den bibliographischen Zugang erleichtern. – Ein informativer und vor allem für die russischen Leser anregender Band.

Hans Hecker, Düsseldorf/Köln

Zitierweise: Hans Hecker über: Istorija i istoriki. Istoriografičeskij vestnik. 2011–2012. Otv. red. A. N. Sacharov. Moskva: Nauka, 2013. 351 S. ISBN: 978-5-8055-0257-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Hecker_Sacharov_Istorija_i_istoriki_2011-2012.html (Datum des Seitenbesuchs)

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