Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Matthias Hardt

 

Audronė Bliujienė: Northern Gold. Amber in Lithuania (c. 100 to c. 1200). Leiden, Boston, MA: Brill, 2011. XLI, 423 S., 140 Abb., Tab. = East Central and Eastern Europe in the Middle Ages, 450–1450, 18. ISBN: 978-90-04-21118-6.

Bernstein, fossiles Harz von den baltischen Küsten der Ostsee, erfreute sich, zu vielfältigem Schmuck verarbeitet, großer Beliebtheit im Römischen Reich, aber auch bei den gentilen Gruppen zwischen dem Herkunftsgebiet des Rohstoffes und den Grenzen des Imperiums. Während die „Bernsteinstraße“ vom donauländischen Carnuntum an die Ostsee immer wieder großes Interesse von Forschung und Öffentlichkeit gefunden hat, sind Bedeutung und Verbreitung des Bernsteins in den Ländern des Baltikums selbst bisher weniger gut aufgearbeitet gewesen. Dies ändert sich durch die Monographie von Audronė Bliujienė, die unter dem Titel Northern Gold eine interdisziplinäre, jedoch vornehmlich auf archäologischem Material beruhende Analyse und Synthese zum Bernstein in Litauen und benachbarten Gebieten zwischen dem ersten und dem zwölften nachchristlichen Jahrhundert unternimmt und dabei Rohstoffe, Distribution, Handel, Verkehrswege und die nach Geschlechtern differenzierte Nutzung des Bernsteins in europäischer Perspektive berücksichtigt (Vorwort, S. 2). Die Autorin hat bereits im Jahr 2007 in Wilna eine in litauischer Sprache verfasste Studie zum gleichen Thema unter Berücksichtigung auch der prähistorischen Zeit vorgelegt (Lietuvos priešistorės gintaras) und ist durch zahlreiche Aufsätze aus dem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts als Kennerin der Vor- und Frühgeschichte Litauens ausgewiesen.

Auf kürzere einleitende Kapitel (1. Baltic Amber: Distribution, Main Sources and Accessibility, S. 5–13; 2. Amber in Lithuanian Historiography, S. 15–34) folgen die beiden Hauptkapitel des Buches (3. The Aestii and the Glesum Epoch, S. 35–202; 4. Amber in Medieval Lithuania, S. 203–334). Audronė Bliujienė zeigt darin, dass die Wertschätzung des aus dem meist an der Küste aufgesammelten oder aus dem Uferbereich herausgefischten, erst in der Neuzeit im Samland auch im Tagebau gewonnenen Rohstoffes und des bearbeiteten und dadurch veredelten Bernsteines im Baltikum selbst in Zeit und Raum sehr unterschiedlich gewesen ist. Ging man bis in die jüngere Vergangenheit davon aus, dass römische Fernhändler den von Plinius dem Älteren in seiner Naturalis historia und von Tacitus in der Germania beschriebenen baltischen Bernstein auf direktem Wege über die „Bernsteinstraße“ in die Werkstätten am Nordufer der Adria gebracht hätten, so wird nun deutlich, dass es eher ein Handelsnetzwerk auf dem Weg von der Ostsee nach Süden und zurück gegeben hat, über das Gewinnung und Transport des Rohbernsteins und dessen Verarbeitung sowie die Redistribution von Bernsteinschmuck in das Baltikum organisiert worden sind. Das archäologische Fundspektrum bestätigt aber auf gewisse Weise den Bericht des Tacitus (Germania c. 45, 1), dass der bearbeitete Bernstein an der Ostsee zumindest im ersten Jahrhundert nicht besonders beliebt gewesen sei.

Nachdem zunächst vor allem Werkstätten in der Przeworsk-Kultur im heutigen zentralen Polen und provinzialrömische Handwerker die Verarbeitung des Rohbernsteins zu hochwertigem und begehrtem Schmuck vornahmen, stieg seit der jüngeren Kaiserzeit auch im Baltikum das Interesse an bearbeitetem Bernstein, der nun als Anhänger, Amulett und auch schon als Ketten getragen in die dortigen Gräberfelder gelangte. Mit dem Bernsteinschmuck kamen auch Fibeln aus dem Barbarikum sowie Glasperlen und zahlreiche römische Bronzemünzen wohl im Austausch zu dem in den Süden gesandten Rohbernstein an die Ostsee zurück (S. 171–189). Der durch den Bernsteinhandel bewirkte Zustrom von Gütern und Ideen hob nach Audronė Bliujienė das Baltikum wirtschaftlich und kulturell auf die gleiche Höhe wie die benachbarten germanischen Gebiete und bedeuteten für die Region ein „golden age“ des Bernsteins.

Obwohl die Völkerwanderungszeit zu einem kulturellen und ethnischen Wandel führte, blieben die Austauschbeziehungen um den Bernstein zunächst bestehen, wie sie sich unter anderem in den in Cassiodors Variae festgehaltenen Kontakten der Aesten an den Hof Theoderichs des Großen manifestierten, die Bliujienė ausführlich diskutiert (S. 210–212). Nach dem 6. Jahrhundert allerdings gingen diese Kontakte nach Süden zurück und wurden ab dem 8. Jahrhundert durch einen zunehmenden Austausch mit Gotland und Skandinavien sowie den finno-ugrischen Liven ersetzt. Handels- und Produktionszentren wie Daugmale an der Dvina und Wiskiauten vermittelten Rohbernstein ebenso wie auswärtige Importe (S. 313–324).

Im späteren Mittelalter ging die Beliebtheit von Bernsteinschmuck zurück, lediglich in den Pferdebestattungen Zentrallitauens zeigt mit Bernstein verziertes Zaumzeug eine gewisse Wertschätzung (S. 324–331). Im späten Mittelalter war Bernstein nur noch im Bereich seiner Lagerstätten von Bedeutung; „amber was no longer a significant aspect of the culture of the Grand Duchy of Lithuania“ (S. 333).

Audronė Bliujienė hat eine umfassende Darstellung der Bedeutung von Rohbernstein und Bernsteinschmuck im ersten nachchristlichen Jahrtausend auf dem Gebiet des späteren Litauen und in angrenzenden Regionen geschrieben, in der viele Aspekte kultur-, sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher Art berücksichtigt werden. Ungewöhnlich geworden ist dabei inzwischen die Gewissheit, mit der die Autorin archäologische Kulturgruppen mit den Jahrhunderte später überlieferten ethnischen Gemeinschaften in Beziehung setzt (S. 203–209), obwohl die ethnische Deutung archäologischer Funde inzwischen erheblich in die Kritik geraten ist, und ihre immer wiederkehrende Bezugnahme auf Litauen, das aber erst nach dem Ende des untersuchten Zeitraumes entstanden ist. Das Buch wird abgeschlossen durch eine Zusammenfassung (S. 335–351), Listen und Tabellen (S. 353–378), eine Bibliographie (S. 379–406) und ein Register (S. 407–423).

Matthias Hardt, Leipzig

Zitierweise: Matthias Hardt über: Audronė Bliujienė: Northern Gold. Amber in Lithuania (c. 100 to c. 1200). Leiden, Boston, MA: Brill, 2011. XLI, 423 S., 140 Abb., Tab. = East Central and Eastern Europe in the Middle Ages, 450–1450, 18. ISBN: 978-90-04-21118-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Hardt_Bliujiene_Northern_Gold.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2016 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Matthias Hardt. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.