Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Imke Hansen

 

Deutsch-polnische Erinnerungsorte. Bd. 5: Erinnerung auf Polnisch. Texte zur Theorie und Empirie des sozialen Gedächtnisses. Hrsg. von Robert Traba / Peter Oliver Loew. Paderborn [usw.]: Schöningh, 2015. 423 S., 1 Graph. ISBN: 978-3-506-77419-4.

Inhaltsverzeichnis:

https://d-nb.info/1022950797/04

 

Der vorliegende Sammelband ist der fünfte Band des vom Zentrum für Historische Forschung Berlin und der Polnischen Akademie der Wissenschaften initiierten Forschungs- und Publikationsprojekts Deutsch-polnische Erinnerungsorte / Polsko-niemieckie miejsca pamięci. Mit neun Bänden und weit über hundert beteiligten Autorinnen und Autoren aus Deutschland, Polen und anderen europäischen Ländern ist es bislang das größte deutsch-polnische geistes- und sozialwissenschaftliche Projekt und in Gestus und Dimension wohl mit der Gründung der deutsch-polnischen Schulbuchkommission vergleichbar.

Genau wie diese bewegt sich das Projekt in den Spuren des kürzlich verstorbenen Klaus Zernack, der lange Jahre der Kommission vorsaß. Dieser setzte sich unermüdlich für die deutsch-polnischen Beziehungen ein und vertrat die Ansicht, dass diese für die Entwicklung beider Länder signifikant seien. Allerdings geht es in diesem Projekt um Beziehungsgeschichte „zweiten Grades“, nämlich um retrospektive Repräsentationen und Vorstellungen von deutscher, polnischer und deutsch-polnischer Geschichte in beiden Ländern. Gegenstand sind deutsche und polnische Erinnerungskulturen, also die Beschaffenheit und Dynamik kollektiver Gedächtnisse sowie das Verhältnis zwischen Erinnerung und Identität. Untersucht werden diese anhand von Erinnerungsorten, Pierre Nora folgend als „historische Bezugspunkte der kulturellen Identität einer Gesellschaft – Personen, Ereignisse, topographische Orte oder andere historische Phänomene“ definiert. Mit Ansätzen aus verschiedenen Disziplinen vergleichen und analysieren die Autorinnen und Autoren gemeinsame, geteilte und parallele Erinnerungsorte, die in deutschen und polnischen Diskursen präsent sind. Durch die beziehungsgeschichtliche Ausrichtung des Projekts kartographieren sie dabei nicht nur Gemeinsamkeiten und Unterschiede, sondern auch transnationale Einflüsse.

Die systematische Verschränkung von Gedächtnis- und Beziehungsgeschichte ist ein Novum, zumal in dieser Dimension. Gleichzeitig ist es ein einzigartiger Beitrag zu einem transnationalen und interdisziplinären Wissenstransfer und ein Impuls zur Integration von Wissenschaftsdiskursen, die bislang als „westeuropäische“ und „osteuropäische“ weitgehend aneinander vorbeiliefen.

Ziel des Projektes ist es, sowohl die eigenen Repräsentationen von Geschichte als auch die der jeweils anderen kritisch zu hinterfragen. Durch die binationale Perspektive werden Mythen und Stereotypen entkräftet, Missverständnisse geklärt und ein Bewusstsein für die besonderen Empfindlichkeiten der jeweils anderen aufgebaut. Das Anliegen, dem Umgang mit Geschichte im deutsch-polnischen Dialog mit Kritik und Klärungsbereitschaft zu begegnen, kommt nicht von ungefähr, sondern entstand aus der aktuellen Situation heraus: „In Anbetracht der Tatsache, dass in vielen deutsch-polnischen Debatten der letzten Jahre Geschichte und Geschichtsbilder für aktuelle politische Ziele missbraucht wurden und werden, steht das Projekt […] in einem unmittelbaren und kritischen Bezug zur aktuellen Praxis, die Vergangenheit zu instrumentalisieren“ (http://www.​cbh.​pan.​pl/de/deutsch-polnische-erinnerungsorte-polsko-niemieckie-miejsca-pami%C4%99ci; 22.​11.​2017) so liest sich das Mission Statement des Großprojektes.

Während das Kernprojekt aus der Publikation von vier Bänden zu deutschen und polnischen Erinnerungsorten, jeweils in einer polnischen und einer deutschen Version, besteht, ist der vorliegende Band 5 (Erinnerung auf Polnisch) eines von vier Begleitprojekten. Er versammelt Texte polnischer Autorinnen und Autoren zur „Theorie und Praxis des sozialen Gedächtnisses“.

Seine Ausgangsthese ist, dass sich in Polen nach dem Zweiten Weltkrieg durch die staatspolitische Beschränkung von internationalen Kontakten ein eigener wissenschaftlicher Diskurs zum Thema Erinnerung entwickelt hat, der im Westen nicht oder kaum rezipiert wurde. So mag in Deutschland der Eindruck entstanden sein, Polen sei, was Gedächtnistheorie angeht, auf Exportprodukte aus Frankreich oder Deutschland angewiesen. Diesen kolossalen Irrtum will der Band korrigieren (S. 9). Der multidisziplinäre Ansatz des gesamten Projektes spiegelt sich auch in diesem Band. Die Beiträge stammen von Vertreterinnen und Vertretern der Geistes- und Sozialwissenschaften, wobei ein inhaltlicher Schwerpunkt auf soziologischen Ansätzen liegt. Die Herausgeber haben Autorinnen und Autoren den Vorzug gegeben, die bislang nicht oder kaum ins Englische oder Deutsche übersetzt worden sind, und haben fast ausschließlich Texte ausgewählt, die bislang nicht auf Deutsch vorlagen (S. 33).

Eingeleitet wird die Textsammlung von einem Gespräch zwischen den Herausgebern Peter Oliver Loew und Robert Traba. Diese legen darin ihre Intention dar, begründen die Auswahl der Texte und ordnen den Band theoretisch und historisch ein. Die Einleitung in Dialogform ist zwar erfrischend, vor allem weil sie die Herausgeber als Personen, mit ihren persönlichen Ansichten und Erfahrungen, nicht außen vor lässt. An einigen Stellen wirkt die Gesprächsführung allerdings etwas künstlich. Darüber hinaus ist die Einleitung durch ihren Gesprächsstil wenig strukturiert. Sie berührt viele Themen und zeugt von der bemerkenswerten Kenntnis der Autoren, bietet aber kaum Unterstützung an, was die Einordnung der angesprochenen Personen, Beobachtungen und Entwicklungen angeht. Gesprächsfäden verlieren sich, andere werden wieder aufgegriffen, Argumentationen verlaufen eher assoziativ als stringent. Das ist unterhaltsam, fordert aber auch heraus - vor allem diejenigen, die mit polnischer Ereignis- und Erinnerungsgeschichte nicht ganz so vertraut sind.

Im ersten Teil des Bandes versammeln die Herausgeber unter der Überschrift Lebendige Geschichte. Der polnische Beitrag zur Theorie der Erinnerungskultur Texte, die für die polnische wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Verbindung zwischen Gesellschaft und Vergangenheit konstitutiv waren und sind. Den Auftakt bildet der Durkheim-Schüler Stefan Czarnowski, der bereits 1919, also noch vor Maurice Halbwachs, über Gedächtnis schrieb, und damit zu den Pionieren der Erinnerungsforschung zu rechnen ist. Der ausgewählte Text beschäftigt sich mit der kulturellen Umformung und politischen Nutzung von Geschichte. Ähnlich wegweisend war und ist der 1963 veröffentlichte Text Lebendige Geschichte von Nina Assorodobraj-Kula, in dem sie das Phänomen des Geschichtsbewusstseins theoretisch ausleuchtet. Auch die weiteren Texte untersuchen die sozialen Mechanismen und Funktionen, die einen Bezug zur Vergangenheit herstellen. Indem sie teilweise an marxistische Denktraditionen anknüpfen und kritische Überlegungen zu Machtverhältnissen und sozialer Fragmentierung einbinden, eröffnen sie spannende Perspektiven. Sie sprechen damit auch diejenigen an, welche die westeuropäischen Erinnerungsdiskurse, in denen vor allem demokratische Errungenschaften affirmiert werden, ermüdend finden. Auch wenn jeder Text sich mit anderen Begriffen und Konzepten befasst – im Mittelpunkt stehen unter anderem Geschichtsbewusstsein, Erinnerung, Gedächtnis, Erbe, Tradition und Symbol – bewegen sich die Autorinnen und Autoren stilistisch und argumentativ durchwegs in einem ähnlichen, theoretischen Rahmen. Gemein ist ihnen auch eine angenehme Kürze und Prägnanz. Sie bilden so einen kohärenten, gut lesbaren und höchst inspirierenden ersten Teil.

Die Texte des zweiten, Erinnerung im Streit überschriebenen Teils sind eher der polnischen Praxis des sozialen Gedächtnisses verpflichtet. Sowohl was das Themenspektrum als auch, was den Stil der Texte angeht, gestaltet sich dieser Teil wesentlich heterogener als der erste. In der Mehrzahl beschäftigen sie sich mit Aspekten des Zweiten Weltkrieges und seiner unmittelbaren Nachgeschichte. Darunter ist auch ein Text über das polnische Verhältnis zur Shoah und über Kriegserfahrungen in den Kresy. Einzelne Texte diskutieren Praktiken der Erinnerung vor dem Zweiten Weltkrieg bzw. die erinnerungskulturelle und vergangenheitspolitische Auseinandersetzung mit dem Kommunismus. Die Verfasserinnen und Verfasser nehmen konkrete Gemengelagen in den Blick, auch wenn einige auf theoretischen oder methodischen Überlegungen aufbauen. So begegnet man beim Lesen nicht nur zahlreichen Erinnerungsorten, sondern auch biographische Erzählungen.

Zweifellos ist auch dieser Teil ein Lesevergnügen, und er eröffnet einen reichhaltigen Einblick in polnische Auseinandersetzung mit der Geschichte und deren (bisherige) Leerstellen. Ob des breiten thematischen Fokus und der längeren, qualitativ unterschiedlichen Texte erreicht er aber nicht die Brillanz des ersten Teils. Auch scheinen hier die Aufnahmekriterien weniger streng befolgt worden zu sein. So hätte statt der bereits auf Deutsch veröffentlichte Interviewanalyse von Marek Czyżewski beispielsweise ein Text der Warschauer Literaturwissenschaftlerin und Photographin Elżbieta Janicka aufgenommen werden können.

Schließlich gilt es, zweierlei hervorzuheben: Mit der Auswahl von immerhin acht von Wissenschaftlerinnen verfassten Texten haben sich die Herausgeber von vielen bisherigen Publikationen, die vor allem Männern eine Stimme geben, positiv abgehoben. Außerdem haben sie für sehr gute Übersetzungen und redaktionelle Arbeit gesorgt, was leider ebenfalls keine Selbstverständlichkeit ist.

Der Band ist eine Fundgrube, wenn man sich für theoretische Überlegungen zu Erinnerung interessiert, die über den westeuropazentrierten Diskurs hinausgehen. Gleichzeitig stellt er eine hervorragende Initiative dar, um anhand eines Themenfeldes geographische und kulturelle Diskursgrenzen zu überwinden. Angesichts der aktuellen politischen Situation in Polen, Deutschland und in Europa kommt nicht nur der Band, sondern das gesamte Projekt genau zur richtigen Zeit. Schließlich lehrt die geschichtliche Erfahrung, so Nina Assorodobraj-Kula, „dass gerade die Geschichte zum intellektuellen wie emotionalen Vehikel der Verteidigung bestehender gesellschaftlicher Strukturen und, umgekehrt, ihrer Bekämpfung taugt“ (S. 63–64).

Imke Hansen, Lüneburg

Zitierweise: Imke Hansen über: Deutsch-polnische Erinnerungsorte. Bd. 5: Erinnerung auf Polnisch. Texte zur Theorie und Empirie des sozialen Gedächtnisses. Hrsg. von Robert Traba und Peter Oliver Loew. Paderborn [usw.]: Schöningh, 2015. 423 S., 1 Graph. ISBN: 978-3-506-77419-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Hansen_Traba_Deutsch-polnische_Erinnerungsorte_5.html (Datum des Seitenbesuchs)

© 2018 by Institut für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg and Imke Hansen. All rights reserved. This work may be copied and redistributed for non-commercial educational purposes, if permission is granted by the author and usage right holders. For permission please contact jahrbuecher@ios-regensburg.de

Die digitalen Rezensionen von „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews“ werden nach den gleichen strengen Regeln begutachtet und redigiert wie die Rezensionen, die in den Heften abgedruckt werden.

Digital book reviews published in Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews are submitted to the same quality control and copy-editing procedure as the reviews published in print.