Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Lutz Häfner

 

L. G. Protasov: Vserossijskoe Učreditelnoe sobranie. Ėnciklopedija. Moskva: Rosspėn, 2014. 553 S. = ISBN: 978-5-8243-1921-7.

Die Idee der Konstituierenden Versammlung hat im Zarenreich über gut hundert Jahre Intellektuelle in den Bann gezogen und seit der Revolution von 1905 Niederschlag in zahlreichen Parteiprogrammen gefunden. Der linkssozialrevolutionäre Volkskommissar für Justiz im Kabinett Lenins, I. Z. Štejnberg, charakterisierte dieses gesamtnationale Gremium als „das frühere Ideal und in der ersten Periode der Revolution leidenschaftlich erwartete Ziel“. (Isaak Zacharovič Štejnberg: Ot fevralja po oktjabr’ 1917 g. Berlin, Mailand o.J. [1920], S. 127) Die allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlen zur Konstituierenden Versammlung, an denen weit über 50 Mio. Männer und Frauen teilnahmen, fanden nach dem Oktoberumsturz 1917 statt. Bemerkenswert ist zum einen, dass die Wahlbeteiligung auf dem flachen Land im Durchschnitt bei etwa zwei Dritteln und damit höher als in den Städten mit etwa 56,6 % lag. Zum anderen machten Frauen auf der Basis der zugänglichen Informationen öfter von ihrem Wahlrecht Gebrauch als Männer (vgl. S. 8, Stichwort: Absentismus). Ungeachtet dieser umfangreichen Legitimationsbasis, die kein Sowjetkongress für sich beanspruchen konnte und daher in der Geschichte des russischen Staates lange ihresgleichen suchte, erwies sich die Konstituierende Versammlung in den Augen der radikalen sozialistischen Parteien, die die Sowjetregierung stützten, als zum „Verwelken bestimmt“, ohne jemals geblüht zu haben. Der Wahlausgang bescherte den Bol’ševiki lediglich ein Viertel der Stimmen. Von einer arbeitsfähigen Mehrheit waren sie weit entfernt, so dass sich einmal mehr die Frage stellte: Was tun? Das Mitglied des bolschewistischen Zentralkomitees M. S. Urickij brachte die Mehrheitsmeinung seiner Partei wie folgt zum Ausdruck: „In Orten, die von den Zentren der revolutionären Arbeit entfernt liegen, erfreut sich die Konstituierende Versammlung großer Popularität. Dies zwingt uns, eine abwartende Taktik zu ergreifen. Berufen wir die Konstituante ein? Ja. Jagen wir sie auseinander? Ja, vielleicht; alles hängt von den Umständen ab.“ (Iz protokolov P. K., in: Krasnaja letopis’ (1923), 6, S. 373–432, hier S. 422) Die Umstände waren in den Augen der Linkssozialisten so, dass der 5. Januar 1918, der Tag der Einberufung der Konstituante, zugleich auch der einzige Tag ihres Wirkens zu bleiben hatte. Gewaltsam unterband die Sowjetregierung ihr neuerliches Zusammentreten und wenige Tage später billigte das Allrussländische Zentrale Exekutivkomitee der Sowjets das von Lenin vorgelegte Auflösungsdekret.

Der 1938 geborene und seit drei Jahrzehnten durch Dutzende Veröffentlichungen zur Konstituante ausgewiesene Historiker L. G. Protasov dürfte als gegenwärtig unbestritten bester Kenner der Materie gelten. (Vgl. u. a. Lev Grigor’evič Protasov: Ljudi Učreditel’nogo sobranija: portret v inter’ere ėpochi. M. 2008) Das Ziel der vorliegenden Enzyklopädie umreißt der Herausgeber mit der Sentenz: „Alles über die Konstituierende Versammlung“. Die Beiträge sind namentlich nicht gekennzeichnet und stammen entweder vom Herausgeber selbst oder dem guten Dutzend Mitwirkenden, darunter so ausgewiesenen Spezialisten wie A. N. Meduševskij, K. N. Morozov oder Ja. V. Leont’ev.

Die Artikel weisen einen gleichförmigen Aufbau auf und folgen im Wesentlichen dem Editionsprinzip, ein Maximum an Information bei einem Minimum an Wörtern zu gewährleisten. In der Tat lassen die etwa 1.900 Einträge, an deren Ende auf einschlägige Quellen und Literatur verwiesen werden, kaum eine Frage offen. Thematisiert werden in den Artikeln nicht nur rechtliche Fragen, sondern neben den politischen Parteien auch lokale Organisationen, soziale Verbände oder ethno-konfessionelle Gruppen, die eigene Wahllisten aufstellten, etwa die Genossenschaften, die Kosaken, Muslime oder die sibirischen oblastniki. Die Artikel beschränken sich dabei keineswegs nur auf die Zeit bis Anfang Januar 1918, sondern berücksichtigen auch die Phase der ‚Nachwehen‘ der Konstituante. Sie thematisieren darüber hinaus die Bemühungen des sich überwiegend aus sozialrevolutionären Abgeordneten rekrutierenden Komuč (Komitet Učreditel’nogo Sobranija, Komitee der Konstituierenden Versammlung), diese Institution jenseits des „roten“ Herrschaftsbereichs wiederzubeleben und als legitimes und machtvolles Gegengewicht zum Rat der Volkskommissare zu etablieren. Etwa die Hälfte der Lemmata ist den Abgeordneten und einigen bedeutenden Kandidaten gewidmet, die den Einzug verfehlten. Es findet sich darüber hinaus auch ein Eintrag von O. N. Znamenskij, einem 1927 in Leningrad geborenen Historiker, der bis zum seinem Tod 1993 im Ruf stand, der beste sowjetische Kenner der Konstituierenden Versammlung zu sein (S. 150). Etwa jedem dritten biographischen Beitrag ist eine Photographie oder Karikatur beigefügt. Diese kurzen Artikel sind indes kein Alleinstellungsmerkmal, weil sich die Informationen auch in Enzyklopädien oder einschlägigen Lexika finden. (Vgl. Političeskie partii Rossii. Konec XIX – pervaja tret’ XX veka. Ėnciklopedija. Otv. red. V. V. Šelochaev. Moskva 1996 oder Političeskie dejateli Rossii 1917. Biografičeskij slovar’. Glavnyj redaktor P. V. Volobuev, Moskva 1993)

Was die vorliegende Enzyklopädie so unverzichtbar macht, ist die Präsentation der Kandidatenlisten und – soweit auffindbar, nämlich in etwa 90 % der Wahlkreise der Abstimmungsresultate. Schon O. H. Radkey hatte die mühevolle und zeitintensive Detektivarbeit, die Wahlergebnisse zusammentragen, betont. Vor diesem Hintergrund ist die Such- und Sammelleidenschaft stupend zu nennen. Es hat den Anschein, als habe der Herausgeber keine Mühe gescheut und nahezu jedes, selbst nur auf der Ebene der Kreisstädte verfügbare zeitgenössische Presseorgan auf Angaben zur Konstituierenden Versammlung ausgewertet. Wenn, wie im Falle der Kreisstadt Buj im Gouvernement Kostroma, keine Wahlergebnisse genannt werden, darf man füglich davon ausgehen, dass sie nicht mehr nachweisbar sind (S. 196). Für viele Wahlkreise werden die Daten nach den unterschiedlichen Wählergruppen (Stadt, Land, Garnison) und Listen aufbereitet, anders als für Moskau werden für die Stadt Petrograd sogar Angaben zu den einzelnen Stadtteilen präsentiert (S. 323324, 256).

Im Anhang findet sich eine übersichtliche Tabelle über den Wahlausgang nach Wahlkreis, Partei und absolutem Stimmergebnis. Es gibt ferner eine Übersicht der Kandidaten, die in mehreren Wahlkreisen – das Wahlgesetz erlaubte bis zu fünf Nominierungen, um so die Wahl der „Parteiprominenz“ zu gewährleisten – von ihren (Partei)Organisationen benannt worden waren, aber dennoch nicht als Abgeordnete in die Konstituierende Versammlung einzogen. Ein kurzes Verzeichnis der wichtigsten gedruckt vorliegenden zeitgenössischen (propagandistischen) Schriften zur Konstituierenden Versammlung, Tagebücher und Erinnerungen, Quellensammlungen sowie der Forschungsliteratur, wobei allerdings mit Ausnahme der beiden Monographien Radkeys die westliche Forschung unberücksichtigt bleibt, komplettieren diese Publikation.

Die vorliegende Enzyklopädie lässt kaum Wünsche offen. Angesichts der Vielzahl der präsentierten Information waren abweichende Angaben nicht immer zu vermeiden: So wurde beispielsweise die von der Kanzlei der Konstituierenden Versammlung registrierte Abgeordnetenzahl der Linken Sozialrevolutionäre mal mit 38, mal mit 40 Abgeordneten angegeben (S. 216, 473); auch wurde ihnen der Vologdaer Abgeordnete N. V. Rasčesaev zugerechnet, der im Namensartikel als Bol’ševik rubriziert wird (S. 352). Dies sind jedoch Quisquilien. Zu bedauern ist, dass kaum Faksimiles von Wahlplakaten und Wahlaufrufen Eingang gefunden haben. Diese wären wünschenswerte Ergänzungen und hätten den unbestreitbaren Wert dieser Enzyklopädie noch gesteigert. Aber auch in der vorliegenden Form ist dem Herausgeber und seinen Mitarbeitern größtes Lob zu zollen. Die Enzyklopädie wird auf längere Sicht das unerlässliche Referenzwerk für die Geschichte der Konstituierenden Versammlung bleiben.

Lutz Häfner, Göttingen

Zitierweise: Lutz Häfner über: L. G. Protasov: Vserossijskoe Učreditel’noe sobranie. Ėnciklopedija. Moskva: Rosspėn, 2014. 553 S. = ISBN: 978-5-8243-1921-7, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Haefner_Protasov_Vserossijskoe_Ucreditelnoe_sobranie .html (Datum des Seitenbesuchs)

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