Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 3 (2013), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Jörg Hackmann

 

Felix Ackermann: Palimpsest Grodno. Nationalisierung, Nivellierung und Sowjetisierung einer mitteleuropäischen Stadt 19191991. Harrassowitz: Wiesbaden 2010. XVIII, 372 S., 22 Abb., 2 Pläne. = Deutsches Historisches Institut. Quellen und Studien, Band 23, ISBN: 978-3-447-06425-5.

Die Aktivitäten von Historikern, die sich im östlichen Europa während des 20. Jahrhunderts als „nation-builder“ betätigt haben, sind mittlerweile vielfach kritisch analysiert worden. Anstelle von wohlfeilen Dekonstruktionen folgt die vorliegende Studie zu Grodno einem anderen Ziel: Der Verfasser will die Chancen einer weißrussischen Nationsbildung in der Stadt zu Beginn des 21. Jahrhunderts ausloten. Er geht dabei von der Beobachtung aus, dass die weißrussische Bevölkerung in Grodno gegenwärtig im Alltag russisch spricht. Damit überschreitet die Studie die Grenzen der klassischen Geschichtswissenschaft und bedient sich, zumindest implizit, kulturwissenschaftlicher Ansätze.

Ackermanns Studie, die sich als eine multiperspektivische Kulturgeschichte Grodnos versteht, reiht sich in die an der Viadrina in Frankfurt/Oder entstandenen Stadtmonographien zu den Umbrüchen und Aneignungsprozessen im 20. Jahrhundert im östlichen Mitteleuropa ein. Während diese Arbeiten in der Regel mit dem Zweiten Weltkrieg einsetzen, ist Ackermanns zeitlicher Blickwinkel breiter: Er behandelt den Zeitraum von der deutschen Besetzung im Ersten Weltkrieg über die Eingliederung in den polnischen Staat 1919 bis zur Auflösung der Sowjetunion.

Quellenbasis für die Untersuchung sind neben Materialien aus dem Staatsarchiv Grodno insbesondere Interviews und Erinnerungsberichte von Bewohnern der Stadt. Methodologisch legt der Verfasser Wert auf die Unterscheidung zwischen Ethnizität als kultureller Zuschreibung und Nationalität als staatlicher Kategorisierung. Insbesondere für die weißrussische Bevölkerung lehnt er eine ethnische Begründung von Nationalität ab. Die für die Darstellung zentrale Metapher des Palimpsests für die Löschungen, Überschreibungen und erneute Sichtbarmachung der verschiedenen historischen Schichten der Stadt hat der Verfasser aus der lokalen Diskussion übernommen. Wenn er als ein Ziel seiner Darstellung die Zusammenführung ‚konvergierender‘ Historiographien angibt, so scheint es sich bei diesen doch bislang eher um divergierende Geschichtsschreibungen zu handeln.

Die Darstellung ist in drei Abschnitte gegliedert: Nationalisierung bis 1939, Nivellierung im Zweiten Weltkrieg und Sowjetisierung nach 1945. Zuvor beschreibt der Verfasser in mehreren einleitenden Passagen seine Erkenntnisinteressen und wirft einen kurzen Blick auf Grodno während des Ersten Weltkriegs. Als eine Spezifik der Stadt beschreibt er die sowohl in Selbst- wie in Fremdzuschreibungen schwach ausgeprägten bzw. fluktuierenden ethnischen und nationalen Bezugssysteme.

Im ersten Teil skizziert der Verfasser die soziale und konfessionelle Topographie Grodnos und hebt hervor, dass die Unterscheidung zwischen Juden und Christen die zentrale Trennlinie in der städtischen Gesellschaft bis 1939 war, auch wenn beide Milieus keineswegs homogen waren. Obwohl christlich-jüdische Konflikte in der Erinnerung an die Zwischenkriegszeit eine zentrale Rolle spielen, nahmen sie erst ab ca. 1935 an Schärfe zu. Allerdings zielten staatliche wie kommunale Behörden schon von Beginn der Zweiten Republik an auf eine Integration Grodnos in den polnischen Staat durch die Zurückdrängung von Jiddisch im öffentlichen Gebrauch und durch eine Politik der ethnischen Polonisierung. Ein weißrussisches Milieu sei dagegen vor 1939 eigentlich nur im Gefängnis präsent gewesen. Der Verfasser geht außerdem auf die städtische Denkmalpflege und Erinnerungspolitik ein, deren Zielrichtung sich insbesondere im Rückbau der orthodoxen Sophienkathedrale zur katholischen Garnisonskirche und im Abriss der Nevskij-Kirche 1938 manifestierte.

Als Nivellierung bezeichnet der Verfasser zunächst die sowjetischen Eingriffe in die Sozialstruktur der Stadt mit Aussiedlungen, Deportationen und der Kollektivierung der städtischen Wirtschaft. Die in der Festlegung der Nationalität im sowjetischen Meldesystem erkennbar werdende Weißrussifizierung der Stadt sei allerdings nur eine ideologische Fassade gewesen, hinter der es zu einer (erneuten) Russifizierung gekommen sei.  Anschließend analysiert der Verfasser ausführlich antisemitische Stimmungen von September 1939 bis Sommer 1941 und erörtert, warum es mit der deutschen Einnahme Grodnos nicht zu lokalen antijüdischen Übergriffen kam. Entscheidend für die Zerstörung der städtischen Gesellschaft war die Einrichtung zweier Ghettos für die jüdische Bevölkerung und deren Deportation und Ermordung bis zum März 1943. Die deutsche Besatzung, die eine Anbindung Grodnos im Rahmen des Bezirks Białystok an Ostpreußen geplant hatte, setzte neben Plänen für eine Germanisierung der Stadt zudem eine Politik der ethnischen Klassifizierung um, die auch die Entwicklung nach der sowjetischen Rückeroberung prägte. Nach der Aussiedlung der polnischen Einwohner lebte 1946 nur noch weniger als ein Drittel der Vorkriegsbevölkerung in der Stadt. Zudem kam es auch zu einer kulturellen Entpolonisierung und damit zu einem Auslöschen der kollektiven Erinnerung an die städtische Geschichte in Grodno.

Das Kapitel zur Sowjetisierung thematisiert die forcierte Industrialisierung der Stadt und die Umgestaltung des Stadtbildes. Die weitreichenden Pläne zur Beseitigung der alten Bausubstanz wurden in Grodno nur partiell realisiert; abgerissen wurde aber 1961 die Ruine der Garnisonskirche. Die demographische Entwicklung war gekennzeichnet durch die Immigration bäuerlicher Bevölkerung aus der Umgebung, was Grodno von Städten in den neuen polnischen Westgebieten, aber auch von Kaliningrad unterscheidet. Trotz dieser Zuwanderung blieb die weißrussische Ethnizität in der Stadt auf Folklore beschränkt, da die Zuwanderer mit dem Eintritt in die Stadt als Akkulturationsleistung die russische Sprache übernahmen. Die Sowjetisierung der Stadt sei nicht nach einem Masterplan zur Russifizierung verlaufen, sondern sei in erster Linie als Akkulturationsprozess zu verstehen. Der Verfasser geht außerdem auf die offizielle Erinnerungspolitik in Museen, Ausstellungen und Straßenumbenennungen ein. Im Gegensatz zu den Brüchen in der kollektiven Erinnerung steht die fortdauernd gepflegte Erinnerung an die polnische Schriftstellerein Eliza Orzeszkowa (18421910), die, so der Verfasser, auch schon während der Perestroika die Vielschichtigkeit des lokalen Gedächtnisses sichtbar werden ließ.

Die abschließenden Passagen zeigen zum einen eine Zunahme des nationalen weißrussischen Diskurses seit den 1980er Jahren und zum anderen, dass die Erinnerung an die Zeit vor 1939 und die Auseinandersetzung mit sowjetischen Symbolen bis in die Gegenwart hochpolitisch ist und dass nationale und (post)sowjetische Interpretationen der Geschichte Weißrusslands miteinander rivalisieren.

Der Verfasser hat mit der Studie zu Grodno ein Buch vorgelegt, das sich vom Mainstream der historischen Nationalismusforschung unterscheidet und einen genauen Blick auf die Polyethnizität im östlichen Europa wirft. Freilich ist die Darstellung nicht ganz frei von gelegentlichen Ungenauigkeiten, von dem Druckfehler mit den unmotivierten Einsprengseln von „weißrussisch“  (S. 280281) einmal abgesehen: Die Behandlung der deutschen Okkupation im Zweiten Weltkrieg ist nicht immer nicht auf der Höhe der Forschung, und die Tätigkeit des „Wannsee-Instituts“ hätte kritisch betrachtet werden müssen. Auch die Übernahme des Begriffs „Judäokommune“ ist problematisch, denn in der artifiziellen Übertragung geht die dezidiert pejorative Konnotation des polnischen Begriffs verloren. Ungeachtet dieser Bemerkungen handelt es sich hier ohne jeden Zweifel um ein engagiert und anregend geschriebenes Buch, das gerade durch die Analyse von Erinnerungsberichten tiefe Einblicke in die Geschichte Grodnos im Jahrhundert der Extreme zulässt. In einer Übersetzung ins Weißrussische wäre Ackermanns Buch möglicherweise auch identitätsbildend.

Jörg Hackmann, Stettin

Zitierweise: Jörg Hackmann über: Felix Ackermann: Palimpsest Grodno. Nationalisierung, Nivellierung und Sowjetisierung einer mitteleuropäischen Stadt 1919–1991. Harrassowitz: Wiesbaden 2010. XVIII, 372 S., 22 Abb., 2 Pläne. = Deutsches Historisches Institut. Quellen und Studien, Band 23, ISBN: 978-3-447-06425-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Hackmann_Ackermann_Palimpsest.html (Datum des Seitenbesuchs)

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