Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 1 (2011), 2 Rezensionen online

Verfasst von: Olivia Griese

 

Norbert Götz, Jörg Hackmann, Jan Hecker-Stampehl (Hrsg.): Die Ordnung des Raums. Men­tale Landkarten in der Ostseeregion. Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag, 2006. 423 S., 21 Abb. = Die Ostseeregion: Nördliche Di­mensionen – Europäische Perspektiven, 6. ISBN: 978-3-8305-1088-8.

In der Geschichtswissenschaft hat die Beschäftigung mit historischen Regionen und mentalen Raumkonstruktionen insbesondere seit den Veränderungen der politischen Landkarte Europas nach 1989 kontinuierlich an Bedeutung gewonnen. Zahlreiche Sammelbände, Aufsätze und Monographien behandeln Raumkonzepte mit unterschiedlichen regionalen und theoretischen Schwerpunkten. Dies trifft in besonderem Maße für den Ostseeraum und seine Anrainer zu. Seitdem die Umwälzungen im östlichen Europa die durch den Kalten Krieg bedingte Teilung der Ostseeregion aufgehoben haben, wird vermehrt die gesamte Region in den Blick genommen. Die Kategorie des Raums als analytische Klammer bietet die Möglichkeit, über nationalstaatliche und überholte systembedingte Trennungen hinaus strukturelle Gemeinsamkeiten aufzudecken und den Vorläufern einer möglichen Ostseeidentität auf die Spur zu kommen.

Ein Ausdruck dieses gestiegenen Forschungs­interesses ist auch der vorliegende Sammelband. Er basiert auf einer Vortragsreihe an der Universität Greifswald 2003/4 und versammelt deutschsprachige Wissenschaftler aus verschiedenen Fachdisziplinen. Schon aus der Formulierung des Titels – Mentale Landkarten in der Ostseeregion – geht hervor, dass nicht notwendigerweise das gesamte Ostseegebiet behandelt wird, sondern hauptsächlich einzelne Regionen im Fokus der Betrachtung stehen. Daher sind Beiträge wie der von Hilde Domi­nique Engelen die Ausnahme, die aus der Perspektive des Fachgebiets „Internationale Beziehungen“ die nach 1989 entstandenen Regionenkonstrukte des Ostseeraum und deren Akteure sowie die zugrunde liegenden Referenzsysteme analysiert. Der dezidiert interdisziplinäre Ansatz der Reihe bedingt auch eine deutliche Heterogenität der behandelten Epochen und Regionen sowie des fachlichen Zugriffs. So versammelt der Band eine Abhandlung zum literarischen Motiv der Kartierung in der skandinavischen Gegenwartsliteratur ebenso wie eine Analyse der mittelalterlichen Backsteinarchitektur in den Handelsstädten der südlichen Ostseeregion. Als historische Aspekte von Raumkonstruktionen werden sowohl die Selbstverortung der DDR als Ostseeanrainer und damit Teil der mentalen und konkreten Landkarte der Ostseeregion behandelt als auch die Wurzeln von maritimen Bezügen der polnischen Identität oder die literarische Konstruktion von Versatzstücken einer kollektiven ‚nordischen‘ Identität in der Frühneuzeit.

Diese Komplexität ist jedoch Programm und soll das Konzept der mentalen Landkarten unter unterschiedlichen Perspektiven in den Blick nehmen, um einen möglichst breiten Einblick in verschiedene Forschungskontexte zu geben. Die drei Herausgeber definieren im Vorwort die hier betrachteten mentalen Landkarten als Ergebnisse komplexer diskursiver Abstimmungsprozesse und zugleich historisch-politisch funktionaler topographischer Bedeutungsträger, mit denen die Welt geordnet wird. In ihren Beiträgen thematisieren sie die gegenwärtige Relevanz von Raumdiskussion mit unterschiedlichem regionalen Fokus. Die mentale Landkarte des Nordens ist Thema des Beitrags von Norbert Götz, der eine nordische Identität ausmacht, die die jeweilige nationale Identität in kultureller Hinsicht ergänzt. Jan Hecker-Stam­pehl richtet sein Augenmerk auf die Verortung Finnlands, die vom Spannungsverhältnis zwischen Annäherung und Abgrenzung zum skandinavischen „Norden“, insbesondere Schweden, einerseits, und der ambivalenten Rolle als Transitraum zum nordwestlichen Russ­land andererseits geprägt ist. Bei der Betrachtung der baltischen Republiken entwickelt Jörg Hackmann ein überzeugendes Konzept von Nordosteuropa als Regionsbegriff, der insbesondere von der spezifischen Randwahrnehmung der kleinen, nicht-nordischen Nationen geprägt ist.

Insgesamt überwiegt der Eindruck der Heterogenität, was auch der Tatsache geschuldet sein mag, dass es sich bei einer Reihe von Aufsätzen um überarbeitete Fassungen von bereits an anderen Orten publizierten Texten handelt. Dennoch lassen sich neben vielen interessanten Aspekten einige übergreifende Erkenntnisse für die weitere Beschäftigung mit der mentalen Vermessung der Ostseeregion gewinnen. Insbesondere wird die Bedeutung der Konstruktion des „Nordens“ als Bezugsrahmen deutlich, sowohl im positiven Sinne der Hinwendung und Annäherung als auch der Distanzierung und Abgrenzung. Zu bedauern sind das Fehlen eines Beitrags über die Rolle Russlands für die Konstruktion dieser historischen Region sowie einige Flüchtigkeiten beim Lektorat wie verrutschte Fußnoten in einigen Aufsätzen.

Olivia Griese, Bonn

Zitierweise: Olivia Griese über: Norbert Götz, Jörg Hackmann, Jan Hecker-Stampehl (Hrsg.) Die Ordnung des Raums. Mentale Landkarten in der Ostseeregion. BWV – Berliner Wissenschafts-Verlag Berlin 2006. = Die Ostseeregion: Nördliche Dimensionen – Europäische Perspektiven, 6. ISBN: 978-3-8305-1088-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Griese_Goetz_Ordnung_des_Raumes.html (Datum des Seitenbesuchs)

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