Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 3 (2013), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Frank Grelka

 

Mirosław Sikora: Niszczyć, by tworzyć. Germanizacja Żywiecczyzny przez naro­dowo­socjalistyczne Niemcy 1939–1944/45. Katowice: Instytut Pamięci Naro­dowej, Komisja Ścigania Zbrodni przeciwko Narodowi Polskiemu, 2010. 719 S., zahlr. Abb. und Tab.  ISBN: 978-83-7629-229-8.

Terror, Massenaussiedlung und Germanisierung waren klassische Anklagepunkte des Obersten Volkstribunals der Volksrepublik Polen gegen leitende Beamte der deutschen Zivilverwaltung in den sogenannten annektierten Gebieten. Mirosław Sikora, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Nationales Gedenken (IPN) in Katowice, untersucht deutsche Besatzungspraxis im neu geschaffenen Regierungsbezirk Kattowitz unter Modernisierungsaspekten. DieTransplantation bevölkerungspolitischer Aspekte der NS-Politik(S. 26) beschreibt der Verfasser am Beispiel der Kleinstadt Żywiec (Saybusch) auf 719 quellengesättigten Seiten. Nur vordergründig baut er auf den Standardwerken von Alfred Konieczny auf, der grundlegend zur Entrechtung, Deportation und Vernichtung der polnischen und jüdischen Bevölkerung in Schlesien publiziert hat. Thema der vorliegenden Studie ist nicht die Verstrickung des deutschen Beamtenapparates in die Besatzungsverbrechen, sondern die kolonisatorische Tätigkeit deutscher Funktionäre beim Aufbau des nationalsozialistischen Mustergaus Oberschlesien. Im ersten und zweiten Teil reproduziert Sikora die Theorien der NS-Agrarpolitik zwischenMystizismusundPragmatismus, gefolgt von einer Rekonstruktion des Netzes aus SS- und Angehörigen der inneren Verwaltung, die im ostoberschlesischen Besatzungsgebiet ihr erstes Experimentierfeld finden sollten. Die große Stärke des Buches liegt in der Beschreibung der institutionellen Machtstrukturen in Partei und Verwaltung auf Kreisebene (Kapitel 3). Mit großer Akribie zeichnet der Verfasser Karrieren deutscher Raumplaner nach und schildert aus der Innensicht der Besatzer die Diskussion zur Frage der Eignung der Bevölkerungsstruktur desKreises Saybusch und seiner Wirtschaftskraft für eine zukünftige Germanisierung. Mit bestechender Präzision rekapituliert Sikora die Umsiedlungsaktion für rund 18.000 Polen aus dem Kreis Żywiec als dynamisches Zusammenspiel zwischen Himmler (in seiner Funktion als Reichskommissar zur Festigung des Deutschen Volkstums), dem ausführenden SS-General Erich von dem Bach sowie Adolf Eichmann, der zwischen September 1940 und Januar 1941 für die logistische Abschiebung der polnischen Bevölkerung auf dem Schienenweg in das Generalgouvernement (GG) verantwortlich zeichnete. Die Beamten vor Ort trieben die Enteignung der polnischen Höfe sowie die Ansiedlung der Volksdeutschen aus Ostgalizien, der Bukowina und Bessarabien voran. Nachdem ihr landwirtschaftliches Hab und Gut zunächst inventarisiert worden war, wurde die autochthone Bevölkerung enteignet, in provisorischen Sammellagern untergebracht, noch einmal rassisch gefiltert (wobei, so der Autor, einige Betroffene die Volksliste unterschrieben und in wenigen Fällen sogar zusammen mit den neuen Ansiedlern auf den Heimathof zurückkehrten), ehe sie in Personen- und Güterwaggons entweder zwecksEindeutschungan die Umwandererzentrale nach Litzmannstadt (Łódź) bzw. zur Zwangsarbeit ins Reich weitergeleitet, oder ins GG deportiert wurden. Ein Vorgang, den der Verfasser apodiktisch auf die Formel der Aussiedlung auch[] des letzten, für die deutsche Kriegsmaschinerie überflüssigen Polenbringt. Von der Ansiedlung der volksdeutschen Bevölkerung, die als Ergebnis der Zusatzprotokolle in Folge des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts vom September 1939 umgesiedelt worden war, auf den ehemaligen polnischen Höfen handelt das 5. Kapitel. Das weitere Schicksal der im GG sich selbst überlassenen und auf die Hilfe der dortigen polnischen Bevölkerung angewiesenen polnischen Vertriebenen wird in einem Anhangskapitel vergleichsweise marginal abgehandelt.

Es liegt eine Täterstudie vor. Die Opfer, denen der Autor seine Studie ausdrücklich widmet, kommen in Form von Zeugenaussagen aus einem 2005 eingestellten staatsanwaltlichen Verfahren der Bezirkskommission Kattowitz zur Verfolgung von Verbrechen gegen die polnischen Nation nur dann zu Wort, wenn das Vorgehen der Täter beschrieben werden soll. Anhand von Zensusmaterial veranschaulicht Sikora eindrücklich die Probleme der SS-Siedlungspolitik: imOststreifen“ akkumulierten sichPolen-Lager“ mit Polen und Juden und Umsiedlerlager mit Volksdeutschen, für die keine Betriebe zur Verfügung standen. In der Forschung ist mittlerweile anerkannt, dass dieseSachzwänge vor dem Hintergrund des Deportationsstopps in das GG vom März 1941 maßgeblich für den Massenmord an den dortigen Juden verantwortlich waren. Deren Verschwinden wurde im Zuge einer längerfristigen SS-Siedlungspolitik stillschweigend vorausgesetzt. Diese Kausalitäten werden in einer isolierten Darstellung der Ermordung der Juden aus dem Kreis Żywiec (wobei der Autor den TerminusAussiedlung bevorzugt) in Kapitel 7 unter der ÜberschriftPazifizierung der polnischen Gesellschaftsubsumiert. Wie unter der Ägide Görings die Haupttreuhandgesellschaft Ost als ein System von überregionalen und regionalen Behörden entstand, die nach der ethnischen Flurbereinigung die einheimische Bevölkerung ihres Ackerlandes, ihrer Immobilien und ihrer Industriebetrieb beraubten, das zeigt der Autor anhand einer systematischen Auswertung einer breiten Überlieferung von Verwaltungsakten des Reiches aus dem Staatsarchiv Kattowitz auf. Den polykratischen Charakter dieser kontroversen Enteignungspolitik demonstriert die Studie am Beispiel der Enteignung der ehemaligen HabsburgerHerrschaft Saybusch. Auch die in der Besatzungsforschung unterrepräsentierte legitimatorische Funktion der politischen Justiz für die Zwangsmaßnahmen des Regimes wird vom Autor mit großer Souveränität anerkannt (S. 447). Durch eine geschickte Auswahl der Quellen aus der Mikroebene besticht ebenso Kapitel neun. In solcher Dichte wurde selten gezeigt, wie Ingenieure, Stadtplaner, Architekten, Demographen und Touristikfachleute in den Żywiecer Beskiden nationalsozialistischen Raum erschufen. Chronologischin der Luft hängen die drei Schlusskapitel: So hätte der Leser die in Kapitel 7 nachgeschobene Schilderung der alltäglichen Schikanen gegen die polnische Zivilbevölkerung auf lokaler Ebene früher erwartet. Ausführliche Biogramme der Täter (deren Nachkriegslaufbahnen in einemPost scriptumgenannten Kapitel illustriert werden) auf deutscher Seite stören den Lesefluss einer ansonsten vorbildlich lektorierten Arbeit. Methodisch fragwürdig sind die seitenlangen Paraphrasen behördlicher Quellen, beispielsweise zur Integration volksdeutscher Ansiedler und zur Errichtung von sogenannten Musterdörfern (Kapitel 8), oder zu anderen verhängnisvollen Schritten auf dem Weg zu einem vermeintlich modernen totalitärenRassenstaat.

Die vorliegende Studie hinterlässt bei ihren großen Verdiensten auf der anderen Seite auch einen etwas ambivalenten Eindruck, weil der Verfasser auf eine kritische Betrachtung des Modernisierungsdiskurses in Bezug auf das Dritte Reich verzichtet und es somit auch versäumt, dem Buchtitel (Vernichten, um zu erschaffen“, einem Nietzsche-Zitat entlehnt) seinen etwas frivolen Klang zu nehmen.

Frank Grelka, Frankfurt/Oder

Zitierweise: Frank Grelka über: Mirosław Sikora: Niszczyć, by tworzyć. Germanizacja Żywiecczyzny przez naro­dowo­socjalistyczne Niemcy 1939–1944/45. Katowice: Instytut Pamięci Naro­dowej, Komisja Ścigania Zbrodni przeciwko Narodowi Polskiemu, 2010. 719 S., zahlr. Abb. und Tab. ISBN: 978-83-7629-229-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Grelka_Sikora_Niszczyc_by_tworzyc.html (Datum des Seitenbesuchs)

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