Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Frank Grelka

 

Florian Dierl / Zoran Janjetović / Karsten Linne: Pflicht, Zwang und Gewalt. Arbeitsverwaltungen und Arbeitskräftepolitik im deutsch besetzten Polen und Serbien 1939–1944. Essen: Klartext, 2013. 510 S. ISBN: 978-3-8375-0808-6.

Auf dem Höhepunkt der Judenvernichtung im April 1943 ließ der Höhere SS- und Polizeiführer Ost Wilhelm Krüger verlautbaren: Landwirtschaftliche Produktion für die Ernährungssicherung, Arbeitskräfte für die Kriegswirtschaft, Versorgung der Ostfront und Rekrutierung von Arbeitskräften seien die verpassten Ziele deutscher Verwaltung im Generalgouvernement. Die Fixierung der Perspektive auf die Entstehung und der Umsetzung des Judenmordes blendet pragmatische Motive der NS-Eroberungspolitik und das Schicksal der nichtjüdischen Bevölkerung aus. Dieser Band ist ein Beitrag zur länderübergreifenden Okkupationsforschung unter kriegswirtschaftlichen Gesichtspunkten. Die drei Autoren sind sich einig, dass die deutsche Herrschaft nicht von politischen Zielen, sondern vielmehr bestimmt wurde[] von den selbstgeschaffenen, politischen und ökonomischen Zwängen, den der deutschen Seite zur Verfügung stehenden Machtmitteln und nicht zuletzt der Infrastruktur des jeweiligen Landes(S. 463). Karsten Linne und Zoran Janjetović untersuchen die Republik Polen (Reichsgau Wartheland und Generalgouvernement, jeweils unter Zivilverwaltung) und das Königreich Jugoslawien (Militärverwaltungsgebiet Serbien) im Hinblick auf die Tätigkeit der Arbeitsverwaltungen und im Spannungsfeld von Volkstumspolitik und Kriegswirtschaft. Abgeschlossen wird dieser von der StiftungErinnerung, Verantwortung und Zukunft(EVZ) finanzierte Band durch Florian Dierls komparatistische Betrachtung zur Arbeitskräftepolitik in beiden Besatzungsgebieten. Der Beitrag von Linne sticht nicht nur durch seinen Umfang gegenüber den anderen beiden hervor, sondern verfügt auch über die nötige Quellentiefe, um wichtige Handlungsmuster deutscher Wirtschaftstätigkeit auf Kosten der polnischen und jüdischen Bevölkerung nachweisen zu können. Chronologisch skizziert Linne dazu im ersten Teil die Traditionen deutscher Arbeitskräfteerfassung seit dem Kaiserreich, rekapituliert detailliert den Aufbau der deutschen Arbeitsverwaltung imWarthegau“ unter Berücksichtigung der weltanschaulichen und ökonomischen Vorstellungen der Besatzer, um im dritten Teil die Umsetzung von Gewaltmaßnahmen (Arbeitskräfterekrutierung, jüdische Zwangsarbeit) und die Reaktionen darauf (Widerstand des polnischen Untergrunds, Arbeitsflucht) vor dem Hintergrund des Zusammenspiels administrativer (Kreisverwaltungen und Arbeitsämter) und exekutiver Kräfte (Gendarmerie) im Generalgouvernement zu analysieren. Trotz einiger Redundanzen (S. 284/287; S. 305/306) vermag Linne überzeugend den Konflikt einer extremen wirtschaftlichen Ausbeutung unter Hinnahme einer instabilen Herrschaft in beiden polnischen Besatzungsgebieten darzustellen, in der Volkstumspolitik letztlich ein Steckenpferd einzelner Behörden blieb. Anhand von Karriereskizzen leitender Mitarbeiter weist Linne mit seinem Exkurs in die Personalstruktur der dortigen Arbeitsverwaltung auf die hohe Relevanz der osteuropäischen Besatzungsgebiete für die laufende Erforschung der Vergangenheit des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales voraus.

Der serbische Historiker Zoran Janjetović beschreibt die Zusammenarbeit zwischen deutscher Militärverwaltung und serbischer Verwaltung, serbischer Polizei und SS in Bezug auf die Ausnutzung einheimischer Arbeitskräfte für die deutsche Kriegswirtschaft. Auf der Grundlage einerunzureichenden Zahl an Dokumenten, so der Verfasser selbst (S. 376), konzentriert sich diese deskriptive Fallstudie auf die Darstellung verschiedener Formen des Zwangs bei der Organisation des Arbeitseinsatzes zur Stillung des deutschen Bedarfs an serbischem Getreide, Kupfer und Metallerz. Diesem Ansatz folgend, arbeitet der Autor drei Formen heraus: die kuluk genannten Fronarbeit, diePflichtarbeit, und den aus einheimischer Initiative hervorgehendenNationalen Dienst zur Erneuerung Serbiens. Abschließend hinterfragt Janjetović die Effektivität der Arbeitsverwaltung im Hinblick auf das Verhältnis von deutscher Kriegswirtschaft und serbischen Autonomiebestrebungen. Während Linne, gestützt auf Primärquellen aus zahlreichen regionalen polnischen und ukrainischen Staatsarchiven, bis in den Alltag der Arbeitskräftepolitik vordringen kann, sieht Janjetović (basierend vorwiegend auf Ego-Quellen) seinen nicht überraschenden Befund einer von Improvisation und gewaltsamen Ad-hoc-Maßnahmen geprägten Mobilisierungspraxis bestätigt trotz der unterschiedlichen Formen sei doch allesZwangsarbeit“ gewesen (S. 439).

Bezugnehmend auf die Standardwerke von Mark Mazower und Ulrich Herbert stellt schließlich Dierl die alte Frage nach dem rassistischen oder wirtschaftlichen Primat deutscher Besatzungspolitik in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Als tertium comparationis der Untersuchungen seiner Koautoren macht er dabei die Stellung der Administration innerhalb der Besatzungsorganisationen, den Radikalisierungsprozess in der Arbeitskräftepolitik und dessen Auswirkungen auf die Lebenssituation und die Handlungsmöglichkeiten der betroffenen Bevölkerung aus. Ein analytischerer Zugriff wäre insbesondere der von den Beiträgern variierten These vomTriumph des Irrationalen(S. 440) zu wünschen gewesen. Offenbar meinen die Autoren den vermeintlichen Widerspruch zwischen nachhaltiger Besiedelungsideolgie und einer brutalen Ressourcenvernichtung. Neuere Studien etwa von Adam Tooze oder Christoph Dieckmann (für Litauen) zeigen aber, dass im Kontext einer früh gescheiterten Kriegsstrategie gegen die Sowjetunion die Arbeitskräftepolitik eng mit der Versorgungspolitik verknüpft war. Dass dabei die weltanschaulichen Grundlagen unangetastet blieben, zeigt der Sommer 1942, als die prekäre Ernährungsfrage an der Ostfront mit der Ermordung der Juden im Generalgouvernement beantwortet wird. Krügers Worte aus der Einleitung haben diesbezüglich deutlich exkulpierenden Charakter, wenn der SS-Führer Generalgouverneur Hans Frank übersteigertes Herrschergefühl und der deutschen Arbeitsverwaltung in Polen Versagen vorwirft. Vielmehr war es die SS selbst, die jeden Ansatz einer konstruktiven Arbeitskräftepolitik im Sinne einer konstruktiven Zusammenarbeit zwischen Reichsarbeitsamt und Zivilverwaltung im Generalgouvernement torpedierte. Die SS hatte daraus entstehende wirtschaftliche Probleme weder vorausgesehen, noch war sie an deren Lösung interessiert. Dierl greift in diesem Zusammenhang auf das Konzept der „Besatzungsgesellschaft“ (S. 454) zurück, das aber gerade durch die Praxis der Arbeitsverwaltung in diesen Gebieten konterkariert wurde. Diese gehörte bald zu den meist gehassten Institutionen und war sicher kein Instrument der „Integration der Besatzungsgebiete in den Rahmen einer europäischen Großraumwirtschaft“ (S. 461), wie eine der Losungen der NS-Verschleierungspropaganda glauben machen wollte.

Diese Studie deutet es an: Die Frage der Kontinuität des ideologischen Ziels der Ausbeutung und Ermordung der europäischen Juden ist mit dezidiert wirtschaftshistorischen Ansätzen auf der Grundlage eines gründlichen Studium der für osteuropäische Besatzungsgebiete beträchtlichen Überlieferung an behördlichen und privatwirtschaftlichen Akten erklärbar. So hilft diese Publikation einige Wissenslücken zu schließen, allein die Erforschung der Zwangsarbeit als integraler Bestandteil deutscher Nachschubpolitik im Weltkrieg steht erst noch am Anfang. Unter diesen Voraussetzungen wird jedenfalls die laufende Auftragsforschung Antwort auf die Frage finden müssen, ob die tiefe Verstrickung der Arbeitsverwaltung in die Ausbeutung der südost- und osteuropäischen Zivilbevölkerung auch für die NS-Vergangenheit der Bundesministerien für Arbeit und Soziales, Justiz, Wirtschaft und Finanzen als paradigmatisch angesehen werden kann.

Frank Grelka, Frankfurt/Oder

Zitierweise: Frank Grelka über: Florian Dierl / Zoran Janjetović / Karsten Linne: Pflicht, Zwang und Gewalt. Arbeitsverwaltungen und Arbeitskräftepolitik im deutsch besetzten Polen und Serbien 1939–1944. Essen: Klartext, 2013. 510 S. ISBN: 978-3-8375-0808-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Grelka_Dierl_Pflicht_Zwang_und_Gewalt.html (Datum des Seitenbesuchs)

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