Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Maximilian Graf

 

Das Jahr 1989 im deutsch-tschechisch-slowakischen Kontext. Hrsg. von Edita Ivaničková / Miloš Řezník / Volker Zimmermann. Essen: Klartext, 2014. 280 S., Graph. = Veröffentlichungen der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission, 19. ISBN: 978-3-8375-1009-6.

Inhaltsverzeichnis:

http://d-nb.info/1045787582/04

 

Der vorliegende, dem Jahr 1989 im deutsch-tschechisch-slowakischen Kontext gewidmete Sammelband geht auf die Konferenz der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission des Jahres 2009 zurück, die weniger als Jubiläumsveranstaltung 20 Jahre nach 1989, denn als offene Bestandsaufnahme über den Forschungsstand und über laufende Arbeiten konzipiert war. Rechtzeitig vor dem 25-hrigen Jubiläum wurde der Band nun im Dezember 2013 veröffentlicht. Bi- und in diesem Fall trilaterale Historikerkommissionen sind wichtig, da sie in institutionalisierter Weise einen Rahmen für die Aufarbeitung von gemeinsamer Geschichte bieten. Zu den Aufgaben der Kommissionen gehört es auch, die Ergebnisse ihrer Arbeit der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ob dies jedoch im Falle jeder Konferenz durch einen Tagungsband erfolgen muss, erscheint fraglich, da beispielsweise in diesem Fall zumindest die ersten vier Beiträge bereits in der einen oder anderen Form veröffentlicht worden sind.

Nach einer kurzen Einführung der Herausgeber, die in aller Kürze über die Problematik der Existenz eines Erinnerungsortes „1989“ im Jahr 2009 reflektiert und die Beiträge des Bandes vorstellt, bilden zwei Texte mit grundlegenderen Überlegungen zu den Wegen in das Jahr 1989 den eigentlichen Auftakt des Bandes. Zunächst liefert Christoph Boyer seine – vor allem mit Blick auf die „exogenen Faktoren“ – stark ökonomisch inspirierten Überlegungen zum Systemwechsel in Ostmitteleuropa (ausführlicher nachzulesen in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte 1/2011). Sein bemerkenswertestes Interpretationsangebot bleibt die These, dass die vormals sozialistischen Staaten 1989 lediglich auf die westlichen Lösungsansätzen zur Bewältigung der Herausforderungen einer sich immer rascher globalisierenden Welt umschwenkten. Anschließend bietet Michal Pullmann eine eher faktographisch-konventionelle Darstellung zu Verlauf und Ursachen des „Zusammenbruchs der kommunistischen Herrschaft in Ost- und Mitteleuropa“.

Ohne „deutschen Kontext“ kommen die beiden darauffolgenden Beiträge aus. Beata Katrebova-Blehova spürt dem „sowjetischen Faktor“ beim Fall des Kommunismus in der Tschechoslowakei nach. Nur langsam begann sich unter Michail S. Gorbačev das stabile Verhältnis zwischen der Sowjetunion und dem tschechoslowakischen „Normalisierungsregime“ zu verändern. Aufgrund der nach wie vor unbefriedigenden Quellenlage müssen weiterhin viele Fragen offen bleiben. Dies betrifft auch die Frage, ob es in diesem Kontext nun Gorbačevs Zurückhaltung bei der Einmischung in die inneren Angelegenheiten der „Bruderstaaten“ oder den reformfeindlichen Kräften der tschechoslowakischen Führung geschuldet war, dass in der Tschechoslowakei die längste Zeit Reformen ausblieben. Die Autorin neigt der Interpretation zu, dass das Fehlen einer stärkeren Parteinahme Gorbačevs zugunsten der reformwilligen Kräfte in der KSČ dafür hauptverantwortlich war. Der anschließende umfangreiche Aufsatz von James Krapfl, dessen Forschungsergebnisse hier erstmals in deutscher Sprache veröffentlicht werden, geht auf Basis von Flugblättern, Proklamationen, Manifesten und Mitteilungsblättern der Monate November und Dezember 1989 den „Idealen des November“ in der Tschechoslowakei nach. Seinen Ergebnissen zufolge war die „samtene Revolution“ eine besonders idealistische, und es bildete sich ein „revolutionärer Idealismus“ aus, den der Autor unter folgenden Begriffen in Unterkapiteln erläutert: „Gewaltfreiheit“, „Selbstorganisation“, „Demokratie“, „Fairness“, „Menschlichkeit“ und auch „Sozialismus“, der natürlich nicht über Nacht verschwand, nun aber wieder als einer mit „menschlichem Antlitz“ verstanden wurde. Abschließend setzt er sich kritisch mit der von Jürgen Habermas und François Furet verfochtenen These auseinander, dass die Revolutionen des Jahres 1989 keine neuen, zukunftsweisenden Ideen gebracht hätten, und kontert in philosophischer Manier mit der Gegenfrage, was für eine Zukunft wir denn hätten, wenn „Menschlichkeit“ und „Gewaltfreiheit“ nicht deren Teile wären.

Miroslav Kunštát und Thomáš Vilímek bieten einen quellengesättigten Aufriss der doppeldeutsch-tschechoslowakischen Dreierbeziehung „im Zeichen der Perestroika“. Obwohl sich die politischen Beziehungen Prags zur Bundesrepublik Deutschland zusehends entkrampften, blieben die „brüderlichen“ Beziehungen zur SED/DDR eng und wurden noch weiter intensiviert. Eine Intensivierung erfuhr aber auch die Solidarisierung unter den Regimegegnern beider Länder. Wünschenswert wären noch abschließende Bemerkungen zur Haltung der seit 1990 föderativen Tschechoslowakei zur deutschen Einheit im Jahr 1990 gewesen, denn – wie die beiden Autoren am Ende ihres Beitrags zurecht anmerken – kamen (trotzdem die Beziehungen nun auf einer vollkommen neuen Grundlage standen) bald „viele alt-neue, aus der Vergangenheit herrührende Probleme“ wieder ans Tageslicht. Thematisch anschließend geht Ondrej Pöss nach einleitenden Ausführungen zur Lage der deutschen Minderheit in der Tschechoslowakei nach 1945 der von den Deutschen in der Slowakei vor dem Hintergrund der Veränderungen des Jahres 1989 wahrgenommenen „Chance zur Selbstorganisation“ nach. Früh im Jahr 1990 wurde mit der Gründung von Vereinen und der Herausgabe von Nachrichten begonnen; eine besondere Rolle spielten dabei die Karpatendeutschen.

Dieter Segert und Vladimír Handl behandeln vergleichend die Sozialismus- bzw. Reformdiskussionen der „intellektuellen Dienstklasse“ von SED und KSČ, deren Bedeutung für den gewaltlosen Ablauf des Machtwechsels sowie deren Fortwirken als politische Akteure in der Nachwendezeit. Ebenfalls vergleichend referiert Susanne Schwarz die Europa-Bilder tschechoslowakischer und ostdeutscher Bürgerrechtler. Während die „Unteilbarkeit des Friedens“ zentraler Bestandteil der dissidenten Diskussion in beiden Staaten war, attestiert die Autorin dem tschechoslowakischen Dissens ein stärkeres Bestreben, die eigene „Europäizität“ zu unterstreichen. Nicht unbedeutend hierfür waren neben der KSZE die unterschiedlichen Mitteleuropakonzeptionen der achtziger Jahre, die nur selten die DDR mit einschlossen. Die „samtene Revolution“ symbolisierte schließlich auch die „Rückkehr“ der Tschechoslowakei „nach Europa“ – die Euphorie darüber verblasste in Teilen der tschechischen politischen Klasse aber rasch, was sich dann auch in einer integrationsfeindlichen EU-Politik äußerte. Für die Akteure aus der DDR wurden ihre Europakonzepte mit der deutschen Einheit und der damit verbundenen sofortigen Zugehörigkeit zur EU praktisch obsolet. Der dritte vergleichende Beitrag aus der Feder von Blanka Koffer widmet sich den Handlungsspielräumen ostdeutscher und tschechischer Ethnografen in der Zeit des Systemwechsels, der sich gewissermaßen als ein Übergang vom Reagieren auf die Veränderungen zum eigenständigen Agieren, wenn auch mit ungewissem Ausgang, charakterisieren lässt.

Die letzten beiden Beiträge des Bandes sind laut Einleitung dem gegenwärtigen Erinnern an 1989 gewidmet, vielmehr gehen sie aber Fragen der Deutungshoheit und dem historischen Bewusstsein der Gesellschaft sowie den Ergebnissen von Geschichtsvermitt­lung nach. Adam Hudek bietet eine kritische Analyse der Rolle der Historiker bei der Formierung des historischen Bewusstseins in der Slowakei. Jedenfalls brachte das Ende der kommunistischen Herrschaft eine Hinwendung der Forschung zur „nationalen Frage“, weshalb die Zahl der Arbeiten über 1989 gering geblieben ist. Der Vergleich mit Tschechien und Deutschland bleibt daher auch schwach ausgeprägt. Deutlich wird aber, dass die Deutungshoheit über den Herbst 1989 in der ehemaligen Tschechoslowakei (in Tschechien mittlerweile weniger stark als in der Slowakei) viel stärker den damaligen Akteuren überlassen wurde, als dies im geeinten Deutschland der Fall war. Eine umfassende wissenschaftliche Analyse des Zusammenbruchs des kommunistischen Regimes und darauffolgend des tschechoslowakischen Staates steht seines Erachtens aus; zumindest letzteres dürfte zutreffen.

Nicole Horáková-Hirschler und Vladimír J. Horak präsentieren abschließend mit zahlreichen Grafiken aufbereitet die Ergebnisse einer Untersuchung zur Sicht heutiger Studierender in Ostrava auf die kommunistische Tschechoslowakei und vergleichen die Ergebnisse so weit als möglich mit verfügbaren Daten aus Deutschland. Auch wenn das Faktenwissen (weniger das Verstehen von Zusammenhängen) unter den tschechischen Studierenden vergleichsweise gut ausgeprägt scheint, so bleibt die kontextualisierte Vermittlung der jüngsten Zeitgeschichte eine vordringliche Aufgabe der Geschichtswissenschaft und – noch wichtiger – des Schulunterrichts.

Abschließend bleibt festzuhalten, dass der vorliegende Band eine Reihe solider Quellenforschungen beinhaltet. Insbesondere jene Beiträge, die tatsächlich den deutsch-tschechoslowakischen Kontext des Jahres 1989 ausleuchten oder eben vergleichend behandeln, können mit großem Gewinn gelesen werden. Sie liefern neue Perspektiven und greifen bisher wenig beachtete Forschungsfelder auf. Der Band enthält somit Elemente einer gemeinsamen Geschichtserzählung zu den Ursachen des Falls der kommunistischen Regime in der DDR und der Tschechoslowakei sowie vor allem auch zu den daraus resultierenden Nachwirkungen bis in die Gegenwart. Das Jahr 1989 stellt nur die Klammer der im Band behandelten Themen dar. Es überwiegen Beiträge, die eindeutig der Kommunismusforschung zuzurechnen sind. Bis auf wenige Ausnahmen bleibt die Rolle der Bundesrepublik außen vor, diese sollte aber in künftigen Publikationen zu diesem Themenfeld eine stärkere Berücksichtigung finden.

Maximilian Graf, Wien

Zitierweise: Maximilian Graf über: Das Jahr 1989 im deutsch-tschechisch-slowakischen Kontext. Hrsg. von Edita Ivaničková / Miloš Řezník / Volker Zimmermann. Essen: Klartext, 2014. 280 S., Graph. = Veröffentlichungen der Deutsch-Tschechischen und Deutsch-Slowakischen Historikerkommission, 19. ISBN: 978-3-8375-1009-6, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Graf_Ivanickova_Das_Jahr_1989.html (Datum des Seitenbesuchs)

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