Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 6 (2016), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Maciej Górny

 

Peter Oliver Loew: Wir Unsichtbaren. Geschichte der Polen in Deutschland. Mün­chen: Beck, 2014. 336 S., 25 Abb., 2 Tab., 1 Kte. ISBN: 978-3-406-66708-4.

Obwohl Migration, Akkulturation und Assimilierung schon lange zu den wichtigen Themen der deutschen Geschichtsschreibung und Soziologie gehören, ist das Buch von Peter Oliver Loew aus dem Darmstädter Deutschen Polen-Institut ein Pionierwerk. Eine epochenübergreifende Synthese der Geschichte der Polen in Deutschland gab es bisher noch nie. Wir Unsichtbaren richtet sich an ein breiteres Publikum und bietet eine so amüsante wie informative Lektüre. Die Zielgruppe sind deutschsprachige Leser, die ihr Wissen über die zweitgrößte Migrantengruppe Deutschlands bereichern möchten, eine Community, ohne die Deutschland nicht mehr vorstellbar ist. Folglich liefert Loew in vielen Fällen elementares Basiswissen, vermeidet aber größere Fehler. Die Stärke seiner Geschichte liegt weder in revolutionären Thesen noch in der Ansammlung von Fakten, sondern in dem Kontext, in dem diese analysiert werden.

Das Buch ist in sechs chronologisch aufeinanderfolgende Kapitel gegliedert, wobei deren Länge von sehr kurzen Passagen über Mittelalter und Frühe Neuzeit bis zu vergleichbar sehr langen Kapiteln, die den letzten Jahrzehnten gewidmet sind, variiert. Die Zäsuren richten sich an der politischen Geschichte aus. Es sind die Teilungen, die Jahre 1918, 1939, 1945 und 1989. Nicht immer bleibt diese Konstruktion im Einklang mit dem Inhalt des Buches, das sich an den längeren sozialen Prozessen und nicht an der Politik orientiert. So könnte man vielleicht das Jahr 1981, das eine längerfristige Veränderung des Charakters der polnischen Migration mit sich brachte, als eine mindestens genauso relevante Zäsur in Betracht ziehen.

Das wichtigste, epochenübergreifende und zugleich komplizierteste Problem, das in dem Buch behandelt wird, ist die Identität. Loews Erzählung erfasst alle Kategorien von Polen, die auf deutschem Territorium gewohnt haben, ob Migranten, Zwangsarbeiter, Gefangene oder Bewohner der deutsch besetzten Gebiete. Am meisten interessieren ihn aber die Polen als Minderheit. Folglich spielen die Polnischen „Inseln“ im Ruhrgebiet oder in Berlin eine wichtigere Rolle als etwa Großpolen. Behandelt werden auch die zweite oder dritte Generation der Migranten sowie die polnischen Juden, unabhängig von ihrem individuellen Zugehörigkeitsgefühl. Ein weiterer Aspekt der Identitätsfrage sind die Regionalismen des deutsch-polnischen Grenzgebietes: Schlesier oder Kaschuben, die verschiedene Schattierungen und Übergangsstufen zwischen polnischer und deutscher Identität repräsentierten. Ein weiteres Beispiel sind die protestantischen polnischsprachigen, aber meistens polenfeindlichen Masuren. Im letztgenannten Fall wäre ein Hinweis auf die identitätsstiftende Rolle der kurzen russischen Besatzung Ostpreußens im Ersten Weltkrieg hilfreich gewesen. Vor einigen Jahren analysierte Robert Traba diese Periode als Katalysator der Germanisierung und Radikalisierung der Provinz.(Robert Traba: Wschodniopruskość. Tożsamość regionalna i narodowa w kulturze politycznej Niemiec. Poznań 2006; deutsch: Robert Traba: Ostpreußen – die Konstruktion einer deutschen Provinz. Eine Studie zur regionalen und nationalen Identität 19141933, Osnabrück 2010.) Loew weist auf sehr unterschiedliche Motivationen der polnischsprachigen Minderheiten hin, die 1920 mehrheitlich für Deutschland optierten. Ironisch schreibt er von einer Interessengemeinschaft der Masuren und der deutschen Behörden, die daran interessiert waren, diese Provinz als ethnisch deutsch einstufen zu können. Einige sprachliche oder kulturelle Eigentümlichkeiten konnten daran nichts ändern.

Ein Aspekt der Geschichte, der immer wieder an die Oberfläche kommt, ist die Rolle, die die Modernisierungsprozesse im deutsch-polnischen Verhältnis spielten. Manchmal, schreibt der Autor, wurden die Polen von politischen Entscheidungen getroffen, die nicht primär oder gar nicht als antipolnische Maßnahmen gedacht waren, sondern die Modernisierung des Staates zum Ziel hatten. Andererseits kollidierten die Aussiedlungen der Saisonarbeiter mit den Interessen der deutschen Wirtschaft, was zu Protesten der ostdeutschen Grundbesitzer führte. Diese Linie verfolgt Loew bis zu der Debatte um polnische Spargelpflücker. In längerer Perspektive entwickelten sich Wirtschaftssymbiosen zwischen den polnischen und deutschen Regionen, wobei die eine Seite Arbeitskräfte, die andere Geld und defizitäre Güter lieferte.

Die lange Zeitperspektive erlaubt es, dauerhafte Mechanismen der Migration und Akkulturation zu erfassen. Dazu gehören nicht nur die regionale Spezifik, sondern auch Verhaltensmodi der polnischen Migranten. Über ein Jahrhundert lang erfolgte die Rekrutierung der Migranten durch informelle Mundzumundpropaganda. Flüstern und nicht auffallen gehörte zur Strategie der Berliner Polen im 19. Jahrhundert genauso wie am Ende des 20. Jahrhunderts. Besonders interessant sind Kapitel, in denen die Nachkriegsgeschichte der in Deutschland lebenden Polen erzählt wird. Loew verdeutlicht die fast allgegenwärtige Polenfeindlichkeit der deutschen Gesellschaft, verschweigt aber auch nicht die hohe Kriminalitätsrate der jungen Displaced Persons. Eine Ausnahme in der auf langfristige und zyklische Phänomene konzentrierten Narration stellt der Zweite Weltkrieg dar. Nie früher oder später gab es auf dem deutschen Staatsgebiet so viele Polen. Paradoxerweise förderte der Zwangsarbeiterzufluss eine Belebung des Nationalgefühls der polnischen Minderheit im Reich. Unter den Insassen der KZs machten die Polen die zweitgrößte (nach den Deutschen) Gruppe aus. Mitbetroffen waren auch Hunderttausende der Vertriebenen, die aus den an das Deutsche Reich angegliederten Gebieten „verdrängt“ wurden, sowie die Volksdeutschen, deren komplizierte Situation hier detailliert und kompetent erzählt wird. Hier sieht Loew eine Kontinuität zwischen der NS-Gesetzgebung und der von der CDU forcierten Politik, die ein halbes Jahrhundert nach dem Krieg immer noch „Vertriebene“ generierte.

Was vielleicht noch wichtiger als die wissenschaftliche Zuverlässigkeit und die erzählerische Fähigkeiten des Autors erscheint, ist die Ehrlichkeit und Offenheit, mit der er auch emotionsgeladene Probleme behandelt. Dabei hilft ihm die Insiderperspektive: Wie aus den mehreren Andeutungen im Buch hervorgeht, versteht sich der Autor selbst als Teil der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte. Diese Perspektive erlaubt ihm z. B. gleichermaßen kritisch die langjährige Migrationspolitik der BRD zu kommentieren wie auch die unendlichen Konflikte zwischen den verschiedenen Organisationen der polnischen Minderheit. Er brandmarkt die antipolnischen Stereotype, verschweigt aber nicht Tatsachen wie Grenzkriminalität oder den großen Anteil der Polinnen unter den Berliner Prostituierten in den 1980er Jahren, die solche Stereotype beflügeln. Schließlich steht er der Forderung nach einem Minderheitsstatus für die deutschen Polen kritisch gegenüber, wobei er auf die Tatsache hinweist, dass die meisten Betroffenen entweder als Mitglieder der deutschen Minderheit in Polen oder als politische Flüchtlinge nach Deutschland kamen.

Heutzutage, meint der Autor, beginnt eine neue Phase der polnischen Geschichte Deutschlands, in der sich das bisherige Modell der Migration nicht mehr behaupten kann. Der dauerhafte Zustrom von Menschen aus dem Nachbarland wird wahrscheinlich abnehmen, vielleicht sogar ganz zum Stillstand kommen. Parallel zu den demographischen Veränderungen entwickelt sich eine bunte Welt deutsch-polnischer Identitäten, die in beiden Sprachen und Kulturen zuhause sind und nicht vorhaben, auf die eine oder die andere zu verzichten. Aus der Perspektive von Peter Oliver Loew scheinen ebendiese Identitäten das Beste, was die deutsch-polnische Geschichte hervorgebracht hat.

Maciej Górny, Warschau

Zitierweise: Maciej Górny über: Peter Oliver Loew: Wir Unsichtbaren. Geschichte der Polen in Deutschland. München: Beck, 2014. 336 S., 25 Abb.., 2 Tab., 1 Kte. ISBN: 978-3-406-66708-4, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Gorny_Loew_Wir_Unsichtbaren.html (Datum des Seitenbesuchs)

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