Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews (2017), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Frank Golczewski

 

Rok 1966. PRL na zakręcie. Red. Katarzyna Chmielewska, Grzegorz Wołowiec, Tomasz Żukowski. Warszawa: Instytut Badań Literackich PAN Wydawnictwo, 2014. 409 S. = Komunizm. Idee – dyskurse – praktyki. ISBN: 978-83-64703-06-5.

Inhaltsverzeichnis:

http://scans.hebis.de/36/68/81/36688100_toc.pdf

 

Dass es im Jahr 1968 in Polen mit den Studierendenunruhen und den als Antizionismus getarnten Maßnahmen gegen Bürgerinnen und Bürger jüdischer Herkunft Verwerfungen gegeben hat, gehört zum Allgemeinwissen historisch Interessierter. Aber 1966? War da was?

Als ‚Aufhänger‘ und damit auch als Titelgeber dient den Beiträgen meist jüngerer Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschaftler aus dem Umfeld der Warschauer Akademie der Wissenschaften ein Jubiläum, das in jenem Jahr begangen wurde – die Tausendjahrfeier Polens. Wie der Literaturwissenschaftler Tomasz Żukowski in seinem einleitenden Beitrag sehr eindringlich darstellt, führte das Gedenkdatum Staat und katholische Kirche als Konkurrenten um die Deutungshoheit zusammen: Die weltlichen Instanzen feierten das tausendjährige Bestehen des polnischen Staates, während die Kirche das Millennium der Christianisierung Polens zelebrierte. Einmal abgesehen davon, dass das säkulare Jubiläum verfehlt war – wenn etwas christianisiert („getauft“) wurde, musste es schon zuvor bestanden haben – trafen sich die beiden scheinbaren Gegner auf demselben Feld, wo sie um die symbolische Herrschaft über die Vergangenheit des polnischen Volkes konkurrierten. Bei aller Konkurrenz bestätigten sie sich aber auch gegenseitig: In der Einheit von Kirche und Staat (auch das staatliche Jubiläum orientierte sich ja nur an der Taufe Fürst Mieszkos) konstituierte sich Polen als „katholische Nation“. Żukowski erkennt hier den Kulminationspunkt einer längeren Entwicklung, die (nach nationalen Parolen in den Jahren 1945–1948) mit der Rückkehr Władysław Gomułkas als Parteichef im Jahr 1956 den Nationalismus als legitimierendes Element der polnischen Führung wiederauferstehen ließ.

Was den Nationalismus der sechziger Jahre aber von demjenigen der Zwischenkriegszeit und der ersten Nachkriegsjahre unterschied, war seine Funktion. War er zuvor primär konservativ und in Gegnerschaft zu den ‚fortschrittlichen‘ Programmen von Sozialisten und Kommunisten gewesen, so versöhnten sich die Kleriker nun mit den Sozialprogrammen des Staates, während der Staat den nominellen Internationalismus zurücktreten ließ und die nationalen Elemente (missmutig auch die Kirche einschließlich der durch diese bezeichneten Feinde) in seinen Diskurs aufnahm.

Grzegorz Wołowiec versteht auch den Aufstieg des kommunistischen „Partisanen“ Mieczysław Moczar in jenen Jahren als eine Funktion dieser patriotischen Wende. Sein Buch Barwy walki (Die Farben des Kampfes, 1962) und vor allem dessen Verfilmung 1964 feierten den Patriotismus des kommunistischen Untergrundes und schufen eine Verknüpfung mit den bis dahin verfemten Kämpfern der London unterstehenden Heimatarmee AK – wohl gemerkt mit den Kämpfern, nicht mit deren Ideen oder Führung –, womit eine nationale Einheit samt sozialem Frieden kreiert werden sollte. Für Bart­łomiej Starnawski war dies eine „Naturalisierung“, gar eine „Polonisierung“ des Stalinismus, die eine Versöhnung der polnischen nationalen Gesellschaft mit dem Sozialismus ermöglichte, deren Symbol als „Garant sozialer Hoffnungen“ seit 1956 der Parteisekretär Gomułka war.

Anna Sobieska sieht den literarischen Barden dieser Verbindung in dem Ex-Militär Zbigniew Załuski (19261978), dessen Sieben polnische Todsünden (Siedem polskich grzechów głównych, 1962) zu einem Bestseller wurden, obwohl oder weil das Buch das Bündnis von Nationalismus und Kommunismus „ohne Bösartigkeit“, mit dem „Ziel einer Konsens-Politik“ (S. 111) propagierte. Bis heute tut sich die Literaturkritik mit diesem Autor schwer: „Für die einen: ein faszinierender historischer Publizist […], für die anderen: ein bösartiger Ideologe des Moczarismus“. (Tomasz Leszkowicz: Zbigniew Załuski: Niepokorny pisarz reżimowy. HistMag.org 5.3.2013; http://histmag.org/Zbigniew-Zaluski-niepokorny-pisarz-rezimowy-7681 [27.10.2015].)

Die Beziehung zum Marxismus wird auch noch in anderer Weise problematisiert: Ka­je­tan Mojsak schildert die mühsame Trennung des Philosophen Leszek Kołakowski (1927–2009) vom Marxismus (die später seine Berufung nach Frankfurt torpedierte), Michał Czaja die analogen Entwicklungen bei den Bürgerrechtlern Jacek Kuroń (1934–2004) und Karol Modzelewski (geb. 1937), welche auf unterschiedliche Weise und ohne sich zu ihnen zu bekennen daher eher vergeblich versuchten, etwas von ihren ursprünglich linken Positionen in die Auseinandersetzung mit der Partei zu retten.

Katarzyna Chmielewska sieht die vereinende Geschichtspolitik bereits mit den historischen Filmen nach 1956 beginnen. In den sechziger Jahren sehen hier Żukowski und Aránzazu Calderón Puerta ein klares Symptom auch in der Behandlung der jüdischen Shoa-Schicksale im polnischen Film: Solche, in denen die Mittäterschaft von Polen thematisiert wird, werden gar nicht oder nur einmal aufgeführt und erhalten dann vernichtende Kritiken im Namen des „guten Namens der Polen“. So durfte etwa der Kurzfilm Am Bahngleis (Przy torze kolejowym, 1963) von Andrzej Brzozowski nach einer Erzählung von Zofia Nałkowska (1884–1954) aus dem Jahre 1946 erst 1992 gezeigt werden.

Nur einen schwachen Gegenakzent setzt der Beitrag von Eliza Szybowicz, die der Mädchenliteratur jener Jahre bescheinigt, dass sie erstaunlich modernistisch gewesen sei und sich auch nicht durch die Kirche habe beeinflussen lassen. Insgesamt erscheinen die eher „bleiernen“ polnischen sechziger als eine Zeit, in der nach der ethnischen Homogenisierung Polens nun auch eine mentale herbeigeführt werden sollte.

In einem Epilog überschriebenen Teil fasst jene Zeit ein Beitrag der in Hamburg lehrenden Slavistin Anna Artwińska zusammen, in dem die geschilderten Entwicklungen historisiert werden: Die antisemitische Hetzjagd des Jahres 1968 ist demnach kein ad-hoc-Produkt des Parteiapparats, sondern verdankt ihren Erfolg der bereits seit einem Jahrzehnt salonfähigen Förderung nationaler Stereotypen, einer gemeinsamen Kreation einander eigentlich feindlich gesinnter Instanzen: Artwińska umschreibt sie mit dem „ehrenwerten Haus“ (w domu pełnym zacności), mit dem Witold Gombrowicz eine Familie schildert, in der die weniger „ehrenwerten“ Erscheinungen klar vorhanden sind, aber verschwiegen und nur in ihren Ergebnissen erkennbar werden.

Der wenig auffällige Sammelband zeigt, was der linguistic turn leisten kann: Er erschließt über literarische Texte (und durch Literaturwissenschaftlerinnen und Literaturwissenschafler) eine diskursive Entwicklung, die mehr zur Genese des 1967/68 scheinbar unvermittelt ausbrechenden Antisemitismus beiträgt, als dies konventionelle historische Arbeiten bisher leisten konnten. Zudemerläutert er auch spätere, bis in die Gegenwart hineinreichende Debatten.

Frank Golczewski, Hamburg

Zitierweise: Frank Golczewski über: Rok 1966. PRL na zakręcie. Red. Katarzyna Chmielewska, Grzegorz Wołowiec, Tomasz Żukowski. Warszawa: Instytut Badań Literackich PAN Wydawnictwo, 2014. 409 S. = Komunizm. Idee – dyskurse – praktyki. ISBN: 978-83-64703-06-5, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Golczewski_Chmielewska_Rok_1966.html (Datum des Seitenbesuchs)

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