Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 3 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Katalin Gönczi, Magdeburg

 

One Law for All? Western Models and Local Practices in (Post-)Imperial Contexts. Ed. by Stefan B. Kirmse. Frankfurt, New York: Campus, 2012. 297 S. = Eigene und fremde Welten, 25. ISBN: 978-3-593-39493-0.

Inhaltsverzeichnis:

http://d-nb.info/1011915707/04

 

Das Fortwirken der Western legal tradition, der Rechtstransfer, die Modernisierung und die Globalisierung lassen sich als zentrale Begriffe des von Stefan B. Kirmse herausgegebenen Sammelbandes benennen. Zugleich wird in diesem Buch die methodische Frage an die Rechtsgeschichte gestellt, mit welchen neuen Ansätzen und Fragestellungen diese Disziplin im Hinblick auf die Globalisierung arbeiten kann. Etliche Rechtshistoriker im Umfeld des Frankfurter Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte haben in jüngerer Zeit versucht, einen Weg für die Erweiterung der Disziplin in Richtung Lateinamerika zu finden, und auch auf dem Gebiet der Rechtshistoriographie Osteuropas wurden wichtige Schritte getan. Diese geographische und damit verbundene methodische Erweiterung bedeutet aber nicht die Entfernung von Methoden der europäischen Rechtsgeschichte, denn wie auch der vorliegende Band zeigt, reflektiert man auch bei der Analyse der russischen, afghanischen, chinesischen und lateinamerikanischen Geschichte der Rechtsentwicklung europäische Modelle und Methoden.

Der englischsprachige Sammelband von Stefan B. Kirmse stellt in diesem Kontext ein interessantes Experiment dar. Der Herausgeber, Mitglied derArbeitsgruppe Rechtam Berliner SonderforschungsbereichRepräsentationen sozialer Ordnungen, veröffentlicht in diesem Band Beiträge zu einer Konferenz vom Jahre 2010 an der Humboldt-Universität Berlin. Zum Thema hinführend stellt Kirmse eingangs für die zeitlich, geographisch und methodisch weit gestreuten Beiträge die imperialen bzw. postimperialen Rechtskulturen als gemeinsamen Nenner vor. Der Leser trifft hier auf Thesen, die aus der deutschen Geschichtsschreibung zur Reichsgründung und der damit verbundenen Rechtsvereinheitlichung im späten 19. Jahrhundert als Modell bekannt sind. Kirmse spricht mehrere Ansätze der neueren Rechtsgeschichtsschreibung an, zweifelt z.B. an der Anwendbarkeit der legal transplants (Alan Watson). Der Verfasser geht ebenfalls auf die Methode der US-amerikanischen law and society-Forschungsrichtung ein und hebt die soziokulturellen Hintergründe der Rechtsentwicklung als Prämisse der Analyse hervor.

Die Einzelstudien im ersten Abschnitt des Sammelbandes behandeln dann Rechtsreformen als Teil der Gesetzgebungsgeschichte. Benjamin Beuerle veranschaulicht die Regelung der Todesstrafe im russischen Zarenreich. Nach einem kurzen Ausblick auf die Rechtsreformen des aufgeklärten Absolutismus konzentriert sich der Verfasser auf die Zeit zwischen den Revolutionen von 1905 und 1917 und die damaligen Debatten um die Abschaffung der Todesstrafe. Geschildert werden die liberalen Stellungnahmen und die Gesetzesentwürfe für die russische Legislative. In den Argumenten lässt sich das westliche Modell eindeutig erkennen.

Die Rechtsreformen in Afghanistan in den 1920-er Jahren untersucht Benjamin Buch­holz. In dieser Zeit, als der Staat nach der Erlangung der Souveränität neu organisiert wurde, lag der Schwerpunkt der königlichen Modernisierungsbestrebungen auf der Aufhebung des Rechtspluralismus, obwohl das Recht hauptsächlich von traditionellen Elementen geprägt war. Zur Unterstützung der Rechtsreformen in der Bevölkerung wurde ein staatliches legislatives Organ (loya jirgas) ins Leben gerufen, dessen Tätigkeitsfeld der Autor ausführlich schildert. Buchholz Studie ermöglicht nicht nur einen Einblick in die Verfassungs- und Rechtsgeschichte Afghanistans, sondern sie liefert auch einen gut strukturierten Überblick über die Rolle des Islam und des Gewohnheitsrechts der Stämme in einer auf der Tradition beruhenden Rechtsordnung.

Lena Gautam zeichnet die Adaptation westlicher Modelle anhand der Rolle der psychiatrischen Gutachten im russischen Verfahrensrecht insbesondere im Strafprozess des späten 19. Jahrhunderts nach. Die Thesen des italienischen Kriminalisten Cesare Lombroso und des deutschen Psychiaters Wilhelm Wundt wurden geradlinig adaptiert, stellt die Autorin fest. Als Fallstudie schildert Gautam die Tätigkeit eines der berühmtesten russischen Psychiater, Vladimir Bechterev.

Im zweiten größeren Abschnitt des Bandes werden Themen der Rechtspraxis erörtert, so z.B. die Akteure der Rechtspraxis, deren Rechtshandlungen aus den Quellen aber nur schwer zu ermitteln sind. Carlos Aguirres Überblick zur Tätigkeit jener Rechtskundigen, die ohne juristische Ausbildung, aber dank praktischer Erfahrung jahrhundertelang eine feste Institution für rechtssuchende Indianer und Bauern bildeten, ist ein interessanter Beitrag zur Geschichte der Rechtswirklichkeit. Außer der vielfältigen Rolle dieser Rechtsinterpreten werden auch Segmente der peruanischen agrarischen Gesellschaft, juristische Professionen und die Prozessführung in der Neuzeit veranschaulicht. Hilfreich wäre aber ein zusätzlicher Vergleich mit der zeitgenössischen kontinentaleuropäischen Entwicklung der Prozessvertretung gewesen.

Die von Jane Burbank gestellten Fragen zum law in action in Russland werfen ein Licht auf die Vielfalt der Normen im Zarenreich. Die Autorin prüft anhand von zwei Fällen die Akzeptanz der Normen durch die Bauerngemeinde.

Aspekte der chinesischen Privatrechtsentwicklung werden anhand von Fällen zur Eheschließung und ­scheidung von Xiaoqun Xu erörtert. In den ersten Jahrzehnten des 20.  Jahrhunderts konkurrierten Normen des kaiserlichen Rechts und Gesetzentwürfe als von den Gerichten angewandtes Recht miteinander; dies änderte sich erst mit dem Inkrafttreten des Straf- und Zivilgesetzbuches. Zentrale Fragen dieser Studie sind die Gleichberechtigung der Geschlechter und die Durchsetzung des individuellen Willens in Scheidungsangelegenheiten. Inwieweit diese Forderungen gegenüber einem modernisierten Rechtssystem zur Geltung kamen, wird anhand der Gesetzgebungsgeschichte des chinesischen Familienrechts dargestellt.

Im Hinblick auf das multiethnische und multikonfessionelle russische Zarenreich untersucht Stefan B. Kirmse die Rechtswirklichkeit des Gerichtsverfassungsgesetzes von 1864 bei den Krim-Tataren. Ausgehend von den umfassenden Rechtsreformen der 1860er und 1870er Jahre stellt Kirmse fest, dass ein recht großer Unterschied zwischen Zentrum und Peripherie des Reiches bestand. Im Gebiet der Krim-Tataren wurden die neugeschaffenen erstinstanzlichen Gerichte von den Tataren akzeptiert, und sie wandten sich in Zivil- und Strafrechtsfällen an diese Gerichte. Dadurch wurde auf der Ebene der Rechtsanwendung der Rechtspluralismus aufgehoben, wie der Autor mit mehreren Fallbeispielen aus archivalischen Quellen sowie Zeitungsberichten belegt.

Dass der Rechtspluralismus in den kolonialen Gebieten noch breiter gefächert war, zeigt die Studie von Ulrike Schaper. Die Autorin setzt sich mit der Geltung des Rechts in Kamerun auseinander, das von 1884 bis 1916/19 deutsche Kolonie war. Nicht nur das Recht war vielschichtig, auch die Gerichtsbarkeit wurde parallel zwischen kolonialem Recht und Stammesrecht entwickelt. Schapers Aufsatz zu verflochtenen Rechtswelten ist ein instruktiver Beitrag zur geographischen Erweiterung der neuzeitlichen deutschen Rechtsgeschichte.

Waren die Rechtsreformen in Mexiko nach der Erlangung der Unabhängigkeit ein Neubeginn, oder führte der Rechtsimport zur Kontinuität des Rechtssystems? Entlang dieser Frage entfaltet Manuel de los Reyes García Márkina seinen Beitrag. In Zusammenhang mit dem Begriff derRechtskulturzeichnet der Autor die politische Geschichte Mexikos im 19. Jahrhundert nach, anschließend beschreibt er die Gesetzgebungsgeschichte des Strafgesetzbuchs. Dieses Gesetz ist als Import der Western legal tradition zu betrachten, wobei liberale Prinzipien zur Geltung kamen. Der Autor schildert die Eigenschaften dieses Gesetzes und stellt die Funktionsweise der Laiengerichte von Mexiko-Stadt ausführlich vor.

Der Band vereinigt Aufsätze zum Rechtspluralismus aus verschiedenen Ländern und belegt exemplarisch die Verflechtung der Rechtskulturen mit der Western legal tradition. Auch zur neuzeitlichen Rechtsgeschichte Russlands werden neue Forschungsergebnisse präsentiert. Weitere Untersuchungen sind erwünscht, damit Vergleiche zwischen den und innerhalb der Regionen möglich werden.

Katalin Gönczi, Magdeburg

Zitierweise: Katalin Gönczi, Magdeburg über: One Law for All? Western Models and Local Practices in (Post-)Imperial Contexts. Ed. by Stefan B. Kirmse. Frankfurt, New York: Campus, 2012. 297 S. = Eigene und fremde Welten, 25. ISBN: 978-3-593-39493-0, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Goenczi_Kirmse_One_law_for_all.html (Datum des Seitenbesuchs)

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