Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 4 (2014), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Johannes Gleixner

 

State Secularism and Lived Religion in Soviet Russia and Ukraine. Ed. by Catherine Wanner. New York: Oxford University Press, 2012. X, 346 S. ISBN: 978-0-19-993763-9.

Inhaltsverzeichnis:

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Als Grundthema des Tagungsbandes stellt die Herausgeberin Catherine Wanner einleitend (S. 126) die gesellschaftliche Dynamik zwischen einem säkularisierenden Staat und den Reaktionen religiöser Glaubensgemeinschaften vor. An diese dialektische Beziehung schließt das zweite Leitmotiv des Bandes an: Die durch die staatliche Politik beförderte Verschiebung der Orte des Religiösen.

Gregory L. Freeze: „Subversive Atheism: Soviet Antireligious Campaigns and the Religious Revival in Ukraine in the 1920s“ (S. 2762) liefert den einzigen Beitrag, der sich mit der frühen sowjetischen Religionspolitik beschäftigt. Freeze spricht explizit von der unfreiwilligen „Dialektik“ der sowjetischen Religionspolitik, die durch ihren Angriff auf die Staatskirche die Voraussetzungen für deren Wiederbelebung auf lokaler Ebene schuf, indem sie dem Laienaktivismus einen bisher ungekannten Raum gab. In der Ukraine war der antireligiösen Politik geringerer Erfolg vergönnt als in der RSFSR. Obwohl man im Einklang mit der zentral festgelegten Doktrin ab 1923 eine nervös-vorsichtige antireligiöse Überzeugungsarbeit betrieb, blieb der Erfolg aus. Angesichts eines nach dem Ende des Bürgerkriegs wieder neu aufblühenden religiösen Lebens und einer aufstrebenden autokephalen Kirche, die zum Ort für einen auch politisch verstandenen Nationalismus wurde, zeigte sich das Scheitern einer „Neuen Religiösen Politik“.

Die „große religiöse Wende“ von 1929, die dem gleichzeitig beginnenden sozioökonomischen Angriff auf das Dorf eine kulturelle Dimension gab, war in der Wahrnehmung der antireligiösen Aktivisten die Konsequenz aus dem Scheitern einer vorsichtigen Politik. Die Ukraine war hier ein besonders empfindliches Feld für den Versuch der Behörden, mit dem Kontrollverlust der Religionspolitik über das gesellschaftliche Leben zurechtzukommen.

Aus Interviews mit sowjetischen Juden der Geburtsjahrgänge 1908–1930 gewinnt Anna Shternshis:From the Red Cradle: Memory of Jewisch Family Life in the Soviet Union“ (S. 6392) Erkenntnisse über den Wandel religiöser Traditionen und kollektiver Identitäten.

Die staatliche Politik der Sowjetunion hatte für Juden zunächst unmittelbar positive Auswirkungen und bot einer bisher ausgegrenzten Gruppe ungekannte Integrationsmöglichkeiten. So ließ sich die Generation derjenigen sowjetischen Juden, die in der Sowjetunion bis Ende der dreißiger Jahre sozialisiert wurden, deutlich stärker auf eine sowjetische Identität ein als die vorangehende, aber auch die nachfolgende. Dass es sich vorrangig um Selbstwahrnehmung und weniger um einen abrupten sozioökonomischen Wandel handelte, zeigt Shternshis anhand der Tatsache auf, dass die Ehe mit Nichtjuden in dieser Zeit zwar sozial weitestgehend akzeptiert war, in der Mehrheit aber dennoch nicht praktiziert wurde. Als aber ab den vierziger Jahren von Seiten der Staatsorgane  Antisemitismus spürbar wurde, kehrte sich dieser Trend um: Die Grenze zur Mehrheitsgesellschaft verfestigte sich und mit ihr auch eine separate jüdische Identität.

John-Paul Himka: „Christianity and Radical Nationalism: Metropolitan Andrei Sheptytsky and the Bandera Movement“ (S. 93116) setzt einen Kontrapunkt zu den übrigen Beiträgen des Bandes, indem er den Deutungskampf um die Rolle der Religion zwischen dem Metropoliten Andrei Šeptycky und der Bandera-Bewegung untersucht. Umstritten war dabei nicht nur Rolle der Religion als Legitimationsgrundlage einer säkular-nationalistischen Bewegung, sondern auch die Deutungshoheit innerhalb der griechisch-katholischen Kirche. Šeptycky positionierte sich trotz einiger Übereinstimmungen gegen die Bandera-Bewegung und behauptete für die Kirche einen beständig schrumpfenden allgemeinen Raum jenseits partikularer politischer Indienstnahme (ob positiv oder negativ). Nach seinem Tod bemächtigten sich sowohl ukrainische Nationalisten als auch die siegreiche Sowjetunion in gleicher Weise seines geistigen Vermächtnisses, indem sie ihn zu einem religiösen Nationalisten umdeuteten.

Scott Kenworthy: „The Revival of Monastic Life in the Trinity Sergius Lavra after World War II“ (S. 117158) beschreibt die erstaunliche Kehrtwende der staatlichen Religionspolitik ab 1943 anhand der Wiedereröffnung des Sergius-Dreifaltigkeitsklosters, das durch seine Rolle als spirituelles Zentrum der Orthodoxie gleichermaßen Beispiel wie Ausnahme für staatlich geduldete Religionsausübung war.

Wie im Beitrag von Anna Shternshis fanden auch bei der Wiederbelebung des klösterlichen Lebens im Zeitraum 1943–1948 politische Weichenstellungen statt. Kenworthy widerspricht zugleich Deutungen, wonach der Staat die Kirche im Krieg zwangsweise als Stütze in die Staatsideologie eingebunden habe. Zu dramatisch scheint die ideologische Wende der sowjetischen Religionspolitik gegenüber den späten dreißiger Jahren, die zwar einer Förderung des nationalrusssischen Patriotismus den Weg bereitete, aber trotzdem nicht unmittelbar aus diesem Ziel oder aus dem Kriegsverlauf abzuleiten sei.

Dennoch ließ der Staat auch nach 1948, als er wieder gezielter gegen einzelne Mönche vorging, dem Kloster seine Autonomie. Die Unterordnung der Kirche unter die in der Nachkriegszeit entstandenen Räte für Religions- und Kirchenangelegenheiten boten ihr einen institutionellen Schutz vor Repressionen durch lokale Parteizellen und Behörden. Nicht zuletzt aber konnte die Dreifaltigkeits-Sergius-Lavra bestehen, weil die Interessen von Staat und Kirche an einer korrekten Regulierung des Religiösen nun stellenweise zusammenfielen und die Kirche den gewonnenen Freiraum zu nutzen verstand.

Stella Rock:Pilgrimage in the Changing Landscape of Soviet Russia“ (S. 159189) macht in der Sphäre jenseits der offiziell sanktionierten Religion weiter. Pilgerfahrten stellten den atheistischen Staat vor größere Probleme als die festen Orte der Kirchengebäude. Konsequent im Sinne der bei Kenworthy vorgestellten Steuerung des Religiösen (und dem zaristischen Staat nicht ganz unähnlich) legten die Behörden daher fest, welche Wallfahrten und Prozessionen Teil einer geduldeten offiziellen Religiosität waren und welche nicht.

Die Kreuzesprozession von Velikoreckoe ist ein faszinierendes Beispiel für das Scheitern dieser Politik, anhand dessen Rock beschreibt, wie das eigentlich Sakrale, das der Ritus begleiten sollte, nach dem Verschwinden der Ikone zunächst auf die natürliche Umgebung übertragen wurde und damit eine ältere Form der Heiligenverehrung freilegte, die weder Behörden noch der Kirche gelegen sein konnte. Nachdem erstere schließlich den lokalen Klerus von der Prozession ausgeschlossen hatten, verlor die Kirche in der Folge endgültig die Deutungshoheit über das Heilige an die wallfahrende Bevölkerung. Die schließliche ‚Entweihung‘ des Ortes durch den Staat, der die Gebäude schloss und den räumlichen Zugang sperrte, brachte den Sakraltransfer zum Abschluss, indem das Wesen des Heiligen auf die übriggebliebenen Pilger und den Akt der Wallfahrt selbst überging.

In ihrer Untersuchung des Beichtsakraments widmet sich auch Nadieszda Kizenko:Sacramental Confession in Modern Russia and Ukraine“ (S. 190217) der Frage „unkontrollierter“ Religion, die durch die staatliche Gängelung der Kirche unfreiwillig gefördert wurde. Bereits vor 1917 war die Beichte ein zwar formal individuelles, in der Praxis aber oft kollektiv erfahrenes Sakrament. In der unmittelbaren Nachrevolutionszeit wurde die Beichte dann aufgrund institutioneller Rahmenbedingungen auch theologisch und liturgisch zu einem Kollektivsakrament transformiert. Nach 1943 entstand durch den nach wie vor streng reglementierten zeitlichen Rahmen der Liturgie ein neuer Priestertypus des charismatischen Beichtvaters, der über den Gottesdienst hinaus in personellen Verbünden wirkte. Das in den Beiträgen von Kenworthy und Rock angesprochene Problem wiederholte sich auch hier: Staat und Kirche versuchten mit wechselndem Erfolg, gegen eine sich außerkirchlich manifestierende Religiosität vorzugehen.

Die nächsten beiden Beiträge widmen sich offiziell marginalisierten Glaubensgemeinschaften. Olena Panych:A Time and Space of Suffering: Reflections of the Soviet Past in the Memoirs and Narratives of Evangelical Christians-Baptists“ (S. 218243) konzentriert sich auf den religiösen Legitimationsdiskurs der Evangeliumschristen-Baptisten in deren Memoiren. Durch die Tradierung von in Inhalt und Form sehr gleichförmigen Memoiren erzeugte diese Gruppe für ihre Gemeinden ein stark ritualisiertes kulturelles Gedächtnis. Teil dieser rituellen Selbstbeschreibung war ein geradezu gnostisches Alltagsverständnis, in dem die staatliche Verfolgung spirituelle Legitimität erzeugte und so zu einer Art Heilsgeschichte umgedeutet wurde.

Im Beitrag von Zoe Knox:Preaching the Kingdom Message: The Jehovas Witnesses and Soviet Secularization“ (S. 244271) über die Zeugen Jehovas in der Sowjetunion finden sich manche Parallelen, aber auch markante Unterschiede: Auch die Zeugen Jehovas deuteten die Repressionen wie etwa die GULAG-Haft als Fortschreiten der Heilsgeschichte. Im Gegensatz zu den Evangeliumschristen in der Sowjetunion, die eine distinkte ‚östliche‘ religiöse Kultur ausbildeten, galt die säkulare Welt den Zeugen Jehovas in West und Ost gleichermaßen als verderbt. Knox macht darüber hinaus den einleuchtenden Vorschlag, dass Gruppen wie die Zeugen Jehovas Staat und Partei als idealtypische Negativfolie des neuen Sowjetmenschen erschienen. Man nahm den Anspruch der Zeugen Jehovas auf Totalablehnung der modernen Gesellschaft ernst und nutzte ihn über die Bande für einen sozialistischen Moraldiskurs.

Sonja Luehrmann: „A Multireligious Region in an Atheist State: Unionwide Policies Meet Communal Distinctions in the Postwar Mari Republic“ (S. 272301) nutzt ihre Forschungen zur ASSR der Mari, um die Wechselseitigkeit von atheistischer Politik und religiösem Pluralismus vor Ort hervorzuheben. Die Säkularisierungs- und Identitätsangebote des Staates versuchten zumeist erfolglos, die Kopplung von ethnolingustischer Gruppenidentität und Glaubenstraditionen zu lösen. Vor Ort zeigte sich die Unzulänglichkeit der in Moskau geplanten Kampagnen, die zunächst alles Nichtorthodoxe unter dem Oberbegriff der „Sekten“ kategorisierten und mit gleichförmig antiklerikaler Propaganda bearbeiteten. Überdies konnten sich die naturreligiösen Glaubenspraktiken der Mari den sowjetischen Gegebenheiten gut anpassen, da das Religiöse gar nicht eindeutig bestimmt werden konnte. Auch die Propagandisten des Atheismus lernten aber dazu. Da der Staat letztlich nie genau festlegen konnte, was im Alltag zum Sakralen gehörte und was nicht, ging er dazu über, Kultstätten zu bekämpfen. Deren Nutzung wurde vergleichsweise effektiv unterbunden, über religiöse Praktiken des Alltags sah man dagegen hinweg. Mit der Zeit passte sich die atheistische Propaganda ihren jeweiligen Zielgruppen immer besser an und versuchte sich an der Umdeutung von religiösem Brauchtum zu nationaler Folklore. Die Paradoxie dieser Vorgehensweise war nach Luehrmann, dass die nationale Fragmentierung, der die Religion Vorschub leistete, aus Sicht der Atheisten ein gutes Argument für den Kampf gegen Religion und für die atheistische Bürgergesellschaft hätte sein sollen, in der Praxis aber nicht vermittelbar war.

Die Rolle der Volksfrömmigkeit bei der Rückkehr der Religion ab den siebziger Jahren hebt auch Viktor Yelensky:The Revival before the Revival: Popular and Institutionalized Religion in Ukraine on the Eve of the Collapse of Communism“ (S. 302330) hervor. In der Ukraine wurde die Entwicklung des Gesamtstaates mitvollzogen, zugleich aber schärfer akzentuiert. Yelensky fasst dabei noch einmal die Aporien der sowjetischen Religionspolitik zusammen: Die relative Toleranz des Zentrums in Moskau im scharfen Kontrast zur Repression in den Partei- und Staatsorganen der ukrainischen Peripherie; die oft erfolgreiche Kooptierung der russisch-orthodoxen Kirche, die aber wiederum außerkirchlichen und freireligiösen Bewegungen Zulauf verschaffte („Jeder Pope ist ein Kommunist“); der Streit der verschiedenen Staatsorgane um den richtigen Umgang mit Religion; der gescheiterte Versuch, nationalkulturelle Ausdrucksformen von ethnoreligiösen zu trennen.

Der Wille und die Mittel zur atheistischen Propaganda waren insbesondere in der Ukraine fast bis zuletzt durchaus vorhanden. Aufschlussreich ist vor allem Yelenskys Befund, wonach sich die Wiederkehr der Religionen in der Ukraine recht genau eingrenzen lässt. Kirchliche und atheistische Stellungnahmen lassen übereinstimmend den Schluss zu, dass ab der Mitte der siebziger Jahre sowohl in der Intelligencija wie in der Bevölkerung ein religiöser Aufschwung einsetzte, dem die Partei allen administrativen Maßnahmen zum Trotz wenig entgegensetzen konnte. In der Westukraine förderte obendrein die Verschmelzung von Nationalbewusstsein und griechisch-katholischer konfessioneller Identität den Widerstand gegen die staatliche Politik.

Der Band verbindet aktuelle Forschung in beeindruckend homogener Weise mit grundsätzlichen Fragestellungen. Die eingangs geschilderten Leitmotive werden von allen Beiträgen aufgegriffen. Seinen geographisch und zeitlich äußerst weit gesteckten Deutungsanspruch erfüllt der Band ebenfalls, wenn es auch ein klares Übergewicht der Beiträge zur Zeit nach 1943 gibt.

Als vorsichtige Kritik sei abschließend nur angemerkt, dass sowohl Wanner in ihrem konzeptionellen Rahmen als auch fast alle Einzelbeiträge der sowjetischen Geschichte unausgesprochen eine antireligiöse Meistererzählung unterlegen. Die (Anti)Religionspolitik der Sowjetunion entwickelte sich in der Gesamtschau aber weder stufenweise noch in einem besonders engen oder gar kausalen Verhältnis zur marxistisch-leninistischen Ideologie. Dass Wanner als Beleg ausgerechnet ein Leninzitat anführt, erscheint wie ein verspäteter Teilsieg der Antireligiösen.

Johannes Gleixner, München

Zitierweise: Johannes Gleixner über: State Secularism and Lived Religion in Soviet Russia and Ukraine. Ed. by Catherine Wanner. New York: Oxford University Press, 2012. X, 346 S. ISBN: 978-0-19-993763-9, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Gleixner_Wanner_State_Secularism.html (Datum des Seitenbesuchs)

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