Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 5 (2015), 4 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Johannes Gießauf

 

Geschichte der Slavia asiatica. Quellenkundliche Probleme. Hrsg. von Christian Lübke / Ilmira Miftakhova / Wolfram von Scheliha. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2013. 260 S. ISBN: 978-3-86583-752-3.

Inhaltsverzeichnis:

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Der zu besprechende Band ist, nach Bekunden eines Herausgebers (S. 33), das in dieser Form unbeabsichtigte Endergebnis des Forschungsprojekts Die Rus und das Dešt-i-Qīpčaq – und in diesem Sinne ebenso erfreulich wie bedauerlich. Das unerwartete Zudrehen des Geldhahns für dieses in das DFG-Schwerpunktprogramm Integration und Desintegration der Kulturen im europäischen Mittelalter eingebettete Projekt nötigte nämlich zur raschen Veröffentlichung der Beiträge eines Workshops aus dem Januar 2011. Blieb damit auch das intendierte Ziel des Projekts auf der Strecke, so darf seine gleichsam erzwungene Abschlusspublikation dennoch als Gewinn gesehen werden. Die Tatsache, dass ein positiv evaluiertes Forschungsvorhaben nicht auf die Zielgerade darf, gibt hingegen ein weiteres Kapitel der befremdlichen Wissenschafts- und insbesondere Förderkultur unserer Tage ab.

In seiner Einführung (S. 9–36) steckt Wolfram von Scheliha die Slavia Asiatica als „jene Regionen ab, deren Geschichte im Mittelalter über einen längeren Zeitraum durch vielfältige Formen des Kontaktes zwischen Angehörigen der slavischen Sprachgemeinschaft und den zumeist turksprachigen Völkern Asiens geprägt wurde“ (S. 9). Er verteidigt den nicht unumstrittenen Terminus mit gutem Grund und weist mit ebensolchem den gelegentlich eingeforderten Begriff Slavia Turcica zurück. Sein Blick gilt vor allem den von einer Kulturgefälletheorie geprägten Forschungskontroversen des 20. Jahrhunderts, welche die Rus entweder konsequent von den turkmongolischen Steppennomaden zu trennen oder aber ihre Rückständigkeit gegenüber Europa mittels ihrer Beziehungen zu Asien zu erweisen suchten. Seine Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Narrativen der Sowjethistoriographie, des Eurasismus sowie nationaler Sichtweisen einzelner ehemaliger Sowjetrepubliken gewährt Einblick in das bis heute virulente Problem der Sicht auf die vorzaristische Geschichte dieses Raums. Die Beziehungen der Rus zu den Kiptschaken begannen Jurij V. Zelenskij zufolge (S. 37–49) mit den anfänglich überwiegenden Plünderungszügen der Steppennomaden. In einer zweiten Phase standen ab Beginn des 12. Jahrhunderts neben den Konflikten vornehmlich von den Rus initiierte Bündnisse mit dem hauptsächlichen Ziel der Nutzung kiptschakischer Krieger zur Lösung interner Konflikte. Der Verfasser erarbeitet das wechselnde Mit- und Gegeneinander aus den russischen Chroniken, wobei sich der Erkenntnisgewinn der referierten Namenslisten von Kriegsteilnehmern, Gefangenen, Gefallenen und potentiellen Schlachtorten nicht restlos erschließt. Yulia Mikhailova vertieft den Aspekt des Miteinanders zwischen Kiptschaken und Rus in ‚Christians and Pagans‘ in the Chronicles of Pre-Mongolian Rus: Beyond the Dichotomy of ‚Good Us‘ and ‚Bad Them‘ (S. 50–79). Sie stellt den aus den Quellen bis heute immer wieder entnommenen Vorurteilen über die Barbaren aus der Steppe Belege über Vertrautheit und kulturelle Annäherungen gegenüber. Dabei lassen sich in den von den Ereignissen oft entfernt entstandenen nordrussischen Quellen literarisch traditionellere, und damit deutlich negativere, Bilder festmachen als in Texten aus der tatsächlichen Begegnungszone. Pavel V. Lukin (Data on Nomads in Old Rus’ian Chronicles, S. 80–87) thematisiert Chronologieprobleme der russischen Überlieferung, insbesondere bei der Umrechnung des Weltärenstils in Inkarnationsdatierungen. In erster Linie aber unterbreitet er Vorschläge für Evaluierungs- und Einteilungskriterien der russischen Chroniktexte zu Steppennomaden, um die Erfassung relevanter Quellenstellen in den projektierten Regesten zur Geschichte der Slavia Asiatica sinnvoll zu strukturieren – ein wertvoller Denk- und Diskussionsanstoß für das hoffentlich doch noch realisierbare Schlüsselvorhaben zum Generalthema. Den konsequenten Anschluss daran liefert Wolfram von Scheliha: Nicht-chronikalische Schriftquellen der Rus zur Geschichte der Slavia Asiatica im 13. und 14. Jahrhundert (S. 88–147). Darin erfahren drei Fallbeispiele dieser disparaten und heterogenen Gruppe in exemplarischer Ausführlichkeit Würdigung: 1. Die fünf Belehrungen des Bischofs Serapion von Vladimir, die unter anderem um die Deutung der mongolischen Tributherrschaft als Gottesstrafe kreisen und vermutlich in die Zeit zwischen nach 1258 und 1274/75 zu datieren sind. Fragen um ihre Entstehungszeit und die Kontextualisierung des darin vermittelten Mongolenbildes stehen bei der Analyse im Vordergrund. 2. Drei kirchliche Urkunden zum Streit über die Bistumsgrenzen von Sarāi aus der Zeit zwischen 1330 und 1356, die ungeachtet ihrer strittigen Authentizität Licht auf das Zusammenleben und die kulturellen Verflechtungen der christlichen Rus mit den Mongolen werfen. 3. Eine 2007 bei Ausgrabungen im Kreml entdeckte Inventarliste eines Turko-Mongolen in Form einer Birkenrindenurkunde aus der Zeit um 1400. Im Kontext dieser Quelle werden die zeitgenössische Rolle der Tataren in der Rus und die Verwobenheit der beiden Lebenswelten vor der Folie des Konstrukts „Tatarenjoch“ hinterfragt. Ilmira Miftakhova widmet sich den Quellen zu den tatarisch-litauischen Beziehungen im 14. und 15. Jahrhundert (S. 148–162) und richtet dabei besonderes Augenmerk auf die Urkunden der Khane (jarlyq) und auf die litauischen Chroniken. Für die Zeit des Khans Tochtamyš und seiner Nachfolger lassen sich damit intensive Interaktion und wiederholte Allianzen dokumentieren. Die Ende des 14. Jahrhunderts zunehmenden Auswanderungen von Tataren aus der Goldenen Horde nach Litauen beleuchtet sie auf Basis osmanischer Geschichtsschreibung und eines Mitte des 16. Jahrhunderts entstandenen „Berichtes über die polnischen Tataren“ aus der Feder eines anonymen litauischen Tataren. Sebastian Kolditz erweitert das Quellenspektrum mit Petschenegen, Kiptschaken, Tataren: Beobachtungen zu griechischen und polnischen Quellennachrichten für die Geschichte der Slavia Asiatica (S. 163–198) in quantitativer und vor allem qualitativer Weise ungemein. Kolditz legt eine detailreiche Quellenschau und -studie vor, für die ihm zukünftige Forschende zu Dank verpflichtet sind. Ein nach seinen Maßstäben gestaltetes Ausleuchten der Quellenlandschaft zur Slavia Asiatica sollte fraglos Ziel zukünftiger Bemühungen sein. Die Erforschung turksprachiger Lehnwörter im Altostslavischen in der postsowjetischen Turkologie (S. 199–210) von Andrej Shabashov bietet einen eklektischen Einblick in kontroverse Thesen zu den Turzismen in der Forschungsliteratur der letzten 25 Jahre. In erster Linie vermag Shabashov die Problembeladenheit der Forschung aufzuzeigen, die vielfach von nationalistischen und turkophoben Interessen geleitet erscheint. Die archäologische Erforschung der mittelalterlichen Nomaden im nordwestlichen Schwarzmeergebiet (S. 211–226) von Sergej Gizer gibt einen Abriss über die Grabungsgeschichte im besagten Raum und die daraus resultierenden Kontroversen um Periodisierung, ethnische Zuordnung und Klassifikation der vornehmlich aus Kurganen stammenden Hinterlassenschaften nomadischer Gruppen. Nijaz Ch. Chalitov und Nailja N. Chalitova versuchen in Der doppelköpfige Adler in der islamischen und in der turko-tatarischen Kunst des Mittelalters (S. 227–237) der Genese ebendieses Motivs, seiner Entwicklung und Adaption durch unterschiedliche Ethnien sowie seiner sich wandelnden Bedeutung auf die Spur zu kommen.

Ein solides Register steht am Ende eines Sammelbandes, dessen Beiträge aus den eingangs genannten Gründen zwar kein vollständiges Bild der Quellenlage und ‑probleme der Slavia Asiatica formen können, in zentralen Fragen jedoch wertvolle Einsichten und Anregungen zu weiterer – hoffentlich auch finanzierbarer – Forschung geben.

Johannes Gießauf, Graz

Zitierweise: Johannes Gießauf über: Geschichte der Slavia asiatica. Quellenkundliche Probleme. Hrsg. von Christian Lübke / Ilmira Miftakhova / Wolfram von Scheliha. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2013. 260 S. ISBN: 978-3-86583-752-3, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Giessauf_Luebke_Slavia_asiatica.html (Datum des Seitenbesuchs)

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