Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 7 (2017), 2 Rezensionen online / Im Auftrag des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Luminita Gatejel

 

Stephen Lovell: Russia in the Microphone Age. A History of Soviet Radio, 1919–1970. Oxford: Oxford University Press, 2015. 237 S., 11 Abb. = Oxford Studies in Modern European History. ISBN: 978-0-19-872526-8.

Stephen Lovell hat die erste zeitlich übergreifende Geschichte des sowjetischen Radios in englischer Sprache verfasst. Sie verspricht zudem dem Leser, auch die erste umfassende Darstellung zu diesem Thema zu sein. Im Gegensatz zu der schon existierenden, meist russischsprachigen Literatur nimmt sich der Autor vor, neben den institutionellen und technologischen Aspekten auch auf Programminhalte, die Rezeptionsgeschichte und die gesellschaftlichen Auswirkungen des Rundfunks einzugehen. Die zeitlichen Eckdaten von der Russischen Revolution bis in die siebziger Jahre sind mit der These verbunden, dass während dieser Periode sich die Sowjetunion in einem so genannten „microphone age“ befand, wo dem Radio eine besondere Rolle bei der Schaffung eines sowjetischen Zusammengehörigkeitsgefühls zugeschrieben werden kann (S. 212). Eine zweite, daran anknüpfende These ist die enge Verflechtung zwischen der Rundfunkgeschichte und der allgemeinen sowjetischen Geschichte, denn für beide gilt diese Zeitspanne als eine Entwicklung hin zur Maturität.

Dem Autor ist es hervorragend gelungen, sein Versprechen einzuhalten, die sowjetische Radiogeschichte aus mehreren Perspektiven zu beleuchten. Die chronologisch aufgebaute Studie wechselt mehrmals den Fokus zwischen den institutionellen und den technischen Veränderungen, den Arbeitsbedingungen der Angestellten und den Reaktionen der Hörer. Die Anfangsjahre zeugen von einer langsamen Verbreitung der Radiotechnologie und von einem Kommunikationsmedium im raschen Wandel. Größte Herausforderung in dieser Hinsicht war der Aufbau einer landesweiten Infrastruktur, die dem Radio den Charakter eines Massenmediums geben sollte; ein Ziel, das durch die Errichtung eines weitgespannten Netzes von Radiokabeln partiell erreicht wurde. Diese besondere technische Lösung machte das Radiohören vor allem für die Bewohner auf dem Lande zu einer kollektiven Erfahrung, da es sie zwang, sich um einen der Anschlusspunkte zu versammeln. Im Unterschied dazu hatten Stadtbewohner vermehrt Zugang zu einem kabellosen Radio, was von einer anhaltenden Stratifizierung  der stalinistischen Gesellschaft zeugt. Neben der lückenhaften Infrastruktur zerrte eine rudimentäre technische Ausstattung der  Studios und eine mangelnde Ausbildung der Redakteure an der Qualität der Sendungen.

Das Kapitel über die Radioerfahrung im Zweiten Weltkrieg bildet den Übergang zwischen diesen Aufbaujahren und den späteren „goldenen Jahrzehnten“ des sowjetischen Radios. Einerseits etablierten die Machthaber im Krieg eine strikte Kontrolle über den einzigen Sender, anderseits eröffneten Kriegsnot und unmittelbare Kriegsberichterstattung einige Freiräume für die Radiojournalisten. Es war das erste Mal seit den frühen zwanziger Jahren, dass die Reporter es wagten, mit neuen Sendeformaten zu experimentieren und die standardisierten Formen des öffentlichen Redens mit mehr umgangssprachlichen Wendungen zu durchmischen, um eine „authentischere“ Berichterstattung zu ermöglichen. Diese Erfahrung aus dem Krieg sollte sich als wegweisend für die weitere Entwicklung des Mediums erweisen. Schon im Spätstalinismus und endgültig während der Entstalinisierung erweiterte sich die Bandbreite der Sendeformate und der Übertragungen erheblich. Von nun an bedienten Radioprogramme unterschiedliche Geschmäcker und Interessen innerhalb der sowjetischen Gesellschaft, so dass das Radio zu einem integrativen Teil des „entwickelten Sozialismus“ wurde. Eine technische Neuerung, von der die Radiojournalisten auch zum ersten Mal in den letzten Kriegsjahren profitieren, nämlich die ersten aus Deutschland konfiszierten Tonbandgeräte, erleichterten zunehmend die Vorbereitung der Sendungen.

Neben den multiplen Blickwinkeln ist das breite Quellenrepertoire ein weiterer großer Verdienst des Buches. Lovell hat eine beeindruckende Zahl von Quellen zusammengetragen, darunter offizielle Dokumente, Manuskripte und Aufzeichnungen von Radiosendungen, Hörerbriefe, soziologische Umfragen und Memoiren. Dabei hat er sich nicht nur auf die beiden Metropolen Moskau und Leningrad konzentriert, sondern auch das Lokalarchiv in Gorkij (Nižnij Novgorod) durchforstet. Ganz offen weist er auch auf besondere Praktiken des sowjetischen Archivierens hin, die die Gestaltung seiner Studie mitbestimmten. So fällt etwa nicht nur die Dichte des Materials für die Zeit vor dem Krieg deutlich geringer aus als danach, sondern ganze Tonbänder wurden zusammen mit ihren Sprechern herausgesäubert. Umgekehrt profitierte Lovell vom ersten Tonarchiv, das in der Zweiten Nachkriegszeit gegründet wurde.

Aber auch aus den zentral gesammelten Dokumenten bemüht sich der Autor, die Breite und Vielfalt der sowjetischen Radioerfahrung darzustellen. Dennoch bleibt das Radio für ihn, zumindest bis zum Zweiten Weltkrieg, ein urbanes Phänomen. Jedoch unabhängig von Zeit und Ort waren die Verantwortlichen des sowjetischen öffentlichen Rundfunks vor einen scheinbar unlösbaren Grundsatzkonflikt gestellt: Das Radio sollte gleichzeitig als Sprachrohr der Machthaber dienen und zu kollektiver Partizipation und zum Zusammenhalt animieren. Oder anderes formuliert: wie konnte man Intimität und Teilhabe durch das Radio gewährleisten, ohne dabei die stalinistischen Rede- und Verhaltensnormen zu durchbrechen? Dieses Dilemma umgingen die Journalisten ohne es zu lösen, indem sie die Balance mal in die eine, mal in die Richtung verschoben. Während in den dreißiger Jahren aus Angst vor Säuberungen, alle formalen und inhaltlichen Vorgaben penibel eingehalten wurden, setzte sich peu à peu nach 1941 die „Spontaneität“ durch. Aber auch in den sechziger Jahren blieb das Radio unter unmittelbarer staatlicher Kontrolle. Der Kalte Krieg stellte die sowjetischen Machthaber jetzt vor ein anderes Dilemma: Inwiefern sollte man den Wüschen der Bevölkerung nachkommen, um sie davon abzuhalten, ausländische Sender zu hören? Zugeständnisse wie die Massenproduktion von kabellosen Radios und die Erweiterung des Programmangebots können als ein Entgegenkommen angesehen werden, das nur bedingt die Sowjetbürger davon abhielt, fremde Sender einzuschalten. Trotzdem, so lautet Lovells Fazit, mit ein wenig Hilfe von seinen „Feinden“ verwandelte sich das sowjetische Radio zu einem wichtigen Bezugs- und Identifikationsgegenstand für die Bevölkerung.

Insgesamt ist Lovell ein klares, logisch strukturiertes und unterhaltsames Buch gelungen. Einzig und allein könnte man bemängeln, dass einige Aspekte etwas zu kurz gekommen sind. Die Rezeption von ausländischen Sendern oder die sowjetische Rundfunkpräsenz im Ausland sind wahrscheinlich deswegen auf einige Seiten komprimiert, weil es dazu schon wichtige Beiträge gab. (Simo Mikkonen: Stealing the Monopoly of Knowledge? Soviet Reactions to U.S. Cold War Broadcasting, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 11 (2010), S. 771–805; Kristin Roth-Ey: Moscow Prime Time. How the Soviet Union Built the Media Empire that Lost the Cultural Cold War. Ithaca, NY, London 2011, S. 131–175.) Dennoch hätte man sich beispielsweise gewünscht, etwas mehr über die soziologischen Hörerumfragen oder den Wandel populärer Reaktionen in Briefen an die Redaktion zu erfahren. Jedenfalls ist festzuhalten, dass die vorliegende Studie einen wichtigen Beitrag zur sowjetischen Geschichte darstellt, nicht nur wegen der Wichtigkeit des Radios für die sowjetische Gesellschaft, sondern auch, weil sie neue Einblicke zu Themen wie Zensurpraxis, Subkulturen, Konsumverhalten oder sowjetischem Patriotismus ermöglicht. Und genauso wichtig ist ihr Beitrag zur internationalen Geschichte des Radios, weil sie die Spezifik der sowjetischen Erfahrung bekräftigt.

Luminita Gatejel, Regensburg

Zitierweise: Luminita Gatejel über: Stephen Lovell: Russia in the Microphone Age. A History of Soviet Radio, 1919–1970. Oxford: Oxford University Press, 2015. 237 S., 11 Abb. = Oxford Studies in Modern European History. ISBN: 978-0-19-872526-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Gatejel_Lovell_Russia_in_the_microphone_age.html (Datum des Seitenbesuchs)

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