Jahrbücher für Geschichte Osteuropas:  jgo.e-reviews 2 (2012), 1 Rezensionen online / Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropastudien in Regensburg herausgegeben von Martin Schulze Wessel und Dietmar Neutatz

Verfasst von: Zaur Gasimov

 

Jurij N. Emel’janov: Istorija v izgnanii. Istoričeskaja periodika russkoj ėmigracii (1920–1940-e gody) [Geschichte im Exil. Die historischen Zeitschriften der russischen Emigration (1920er – 1940er Jahre)]. Moskva: Russkaja panorama, 2008. 493 S. = Stranicy rossijskoj istorii. ISBN: 978-5-93165-213-9.

Viktor I. Kosik: Čto mne do vas, mostovye Belgrada? Russkaja diaspora v Belgrade. 1920–1950-e gody. Ėsse [Was geht ihr mich an, ihr Straßen Belgrads? Die russische Diaspora in Belgrad. 1920er – 1950er Jahre. Ein Essay]. Moskva: Institut slavjanovedenija RAN, 2007. 207 S. ISBN: 978-5-7576-0213-4.

V poiskach lučšej doli. Rossijskaja ėmigracija v stranach Central’noj i Jugo-Vostočnoj Evropy (vtoraja polovina XIX – pervaja polovina XX v.) [Auf gut Glück. Die russländische Emigration in den Ländern Mittel- und Südosteuropas (zweite Hälfte des 19. – erste Hälfte 20. Jahrhunderts]. Otv. red. T. A. Pokivajlova. Moskva: Institut slavjanovedenija RAN, 2009. 246 S. ISBN: 978-5-91674-040-0.

Bolgarija i rossijskaja ėmigracija 1920–1945 gg. Istoriko-dokumental’naja vystavka. Katalog vystavki. Vystavočnyj zal federal’nych archivov, 14 fevralja – 18 marta 2007 goda [Bulgarien und die russländische Emigration der Jahre 1920–1945. Eine historisch-dokumentarische Ausstellung. Ausstellungskatalog. Ausstellungssaal der föderalen Archive, 14. Februar – 18. März 2007]. Moskva: Drevlechranilišče, 2007. 102 S., zahlr. Abb. ISBN: keine.

Armen S. Gasparjan: Operacija „Trest“. Sovetskaja razvedka protiv russkoj ėmigracii. 1921–1937 gg. [Operation „Trust“. Sowjetische Aufklärung gegen russische Emigration. 1921–1937]. Moskva: Veče, 2008. 445 S., Abb. = Voennye tajny XX veka. ISBN: 978-5-9533-3534-8.

Die bolschewistische Machtergreifung in Moskau 1917 und der gleichzeitig ausgebrochene blutige Bürgerkrieg zwangen mehrere Hunderttausend Einwohner des ehemaligen Zarenreichs zur Flucht und Auswanderung. Die Zufluchtsorte wurden zu Exilorten. Zwischen 1917–1919 verließen zahlreiche Vertreter der Adels- und der Intellektuellenschicht, des Klerus und des Militärs das von den Bolschewiki regierte Russland. So entstand sozusagen ein Zarubežnaja Rossija, ein „Auslandsrussland“, das sowohl Städte wie Berlin und Paris, aber auch wie Warschau, Prag, Belgrad, Sofia, und Varna und nicht zuletzt Istanbul umfasste. Während die russischen Exilanten in der Tschechoslowakei und Jugoslawien ihr eigenes Schul- und Pressenetzwerk aufbauen und sich politisch organisieren konnten, waren ihre Entfaltungsmöglichkeiten in Warschau und Istanbul eher eingeschränkt.

Das russische Emigrantenleben in Europa stellt ein interessantes und facettenreiches, jedoch – mit Ausnahme der Eurasier-Bewegung (vgl. Stefan Wiederkehr: Die eurasische Bewegung. Wissenschaft und Politik in der russischen Emigration der Zwischenkriegszeit und im postsowjetischen Russland. Köln 2007) – bis jetzt nicht ausreichend untersuchtes Forschungsfeld dar. Die hier besprochenen Publikationen russischer Zeithistoriker und Zeithistorikerinnen sind daher wichtige Versuche, diese Lücke zu füllen.

Der Moskauer Historiker Jurij Emel’janov widmet sich in seinem Buch den russischen Historikern im Exil. Dabei beschreibter besonders ausführlich die russische Historikerzunft in Prag (S. 10–173). Er analysiert nicht nur die Entwicklung der russischen Lehranstalten („Russkij institut“, „Russkoe istoričeskoe obščestvo“ usw.) und die Entstehung der geschichtswissenschaftlichen Periodika („Zapiski“) und einzelner Abhandlungen, die dort den Federn der russischen Exilanten entsprangen. Er konzentriert sich auch auf die Kontakte der russischen Wissenschaftlergemeinschaft zu ihren tschechischen Kollegen und zu Prager Politikern und ihren wechselseitigen Austausch. Im Weiteren untersucht Emel’janov die Entwicklung des Russischen Wissenschaftlichen Instituts und der Russischen Archäologischen Gesellschaft in Belgrad. Im dritten und vierten Kapitel werden die Verflechtungen der russischen Exilwissenschaft zwischen Jugoslawien, der Tschechoslowakei sowie den westeuropäischen russischen Einrichtungen dargestellt: Im Fokus stehen die russischen Geschichtszeitschriften „Na čužoj storone“ (1923–1925) und „Golos minuvšego na čužoj storone“ (1925–1928), die in Berlin, Prag und Paris erschienen und zu wichtigen Foren des Austauschs zwischen den Exilgelehrten wurden. Im Mittelpunkt des letzten Kapitels steht die geschichts- und literaturwissenschaftliche Zeitschrift „Istorik i sovremennik“, die in Form von Sammelbänden insgesamt fünfmal erschien.

Das Thema der russischen Emigration in Jugoslawien steht im Mittelpunkt des Essays „Čto mne do vas, mostovye Belgrada? Russkaja diaspora v Belgrade. 1920–1950-e gody. Ėsse“ des Moskauer Historikers Viktor I. Kosik. In seiner 2007 veröffentlichten populär-wissenschaftlichen Darstellung beschreibt Kosik aufgrund einer detaillierten Untersuchung der Nachlässe und Archivfunde das Wirken der russischen Einrichtungen in Belgrad in der Zwischenkriegszeit. Im Fokus stehen nicht die politischen Organisationen und das Vereinswesen, sondern die Russisch-Orthodoxe (Auslands-) Kirche in Wechselwirkung mit der Russischen Kirche in der UdSSR sowie einzelne russische Bildungseinrichtungen Belgrads (z. B. das 1920 in Belgrad eröffnete Russische Gymnasium). Durch häufiges Zitieren aus den Memoiren einzelner Personen, Kirchenfürsten und Intellektuellen, gelingt dem Autor die Wiederbelebung der russischen Ideenwelt Belgrads der 1920er – 1940er Jahre.

Lidija Petruševa führt in ihrem Vorwort zum Ausstellungskatalog „Bolgarija i rossijskaja ėmigracija 1920–1945 gg.“ die Leser in das Leben der russischen Emigranten in Bulgarien ein. In diesem 2007 in Moskau veröffentlichten bulgarisch-russischen Publikationsprojekt wird eine große Anzahl interessanter Fotoaufnahmen und Dokumente zum Wirken der russischen Exilanten in Sofia während der Zwischenkriegszeit vorgestellt. Neben Prag waren insbesondere die bulgarischen Städte wichtige Zentren der russischen Gelehrsamkeit. Gerade in Sofia erschien 1921 das Büchlein Nikolaj Trubeckojs und seiner Mitstreiter „Ischod k Vostoku“, das mehrere Jahrzehnte lang die Gemüter der russischen Emigration entscheidend prägte. Hier gründete P. B. Struve die prominente literarisch-politische Zeitschrift „Russkaja Mysl neu. Auch entstand in Sofia die Gesellschaft der russischen Maler. (S. 17) Allein im Sommer 1922 wurden in Bulgarien „19 Lehranstalten für die Kinder der russischen Emigranten gegründet, die den Status von staatlichen Schulen erhielten“. (S. 15).

Spannend ist gerade in diesem Kontext der Sammelband „V poiskach lučšej doli“. Einen der Artikel schrieb die russische Polenhistorikerin Tat’jana Simonova. In Polen gab es vergleichsweise wenige russische Schulen und im Gegensatz zur Tschechoslowakei und Bulgarien keine Hochschulen. Simonova setzt sich mit den russischen Emigranten in Warschau auseinander, indem sie auf die in Polen organisierten russischen Exilarmeen von Bulak-Balachovič und Permikin sowie die Armeeverbände von Boris Savinkov, einer der meistdiskutierten Personen der russischen Exilanten-Gemeinschaft in Polen, eingeht. Simonova betrachtet das Wirken der russischen Community in Warschau im Kontext der Entwicklung der polnisch-sowjetischen Beziehungen.

Um die sowjetkritischen Aktivitäten der russischen und der nichtrussischen Emigrantenmilieus in den europäischen Städten zu bekämpfen, entwickelten die sowjetischen Geheimdienste mehrere Projekte, mit denen eine eventuelle Einigung der Exilantengruppen verhindert und die bestehenden russischen Intellektuellenvereinigungen, wie z. B. die der Eurasier (Fürst Nikolaj Trubeckoj, Petr Savickij u.a.), gespalten werden sollten. Das bekannteste sowjetische Projekt hieß „Trest“ (Trust), das der Historikers Armen Gasparjan in seiner 2008 in Moskau erschienenen populärwissenschaftlichen Publikation „‚Trest‘. Sovetskaja razvedka protiv russkoj ėmigracii. 1921–1937 gg.“ untersucht.

Einigen Personen der Zarubežnaja Rossija wie Boris Savinkov und dem „Mann mit Tausend Namen“ (Gasparjan, S. 134), dem Agenten der OGPU Ėduard O. Opperput-Upelinec, die in den Beziehungen zwischen den sowjetischen Behörden und den Einrichtungen der Exilanten eine bedeutende Rolle gespielt haben, begegnet man in den Beiträgen von mehreren der hier besprochenen Autoren. Ohne die Studien der Cambridge School of Intellectual History (vor allem Quentin Skinner) zu erwähnen, gehen die russischen Historiker in ihrer Darstellung ähnlich vor. Der Werdegang des russischen Terroristen Boris Savinkov wird im Kontext seiner Kindheitserlebnisse, nämlich z. B. des Selbstmords seines Bruders in Sibirien und der Demenz­erkrankung seines Vaters, dargestellt. Interessante Tatsachen erfährt man auch über eine berüchtigte Figur der russischen Gemeinschaft in der Schweiz, Moris Konradi (1896–1946), der 1923 den sowjetischen Diplomaten Vorovskij tötete und anschließend in der Légion Étrangère diente. (S. 368)

Einen spannenden Einblick in das Leben und Wirken der russischen Exilanten in der Tschechoslowakei liefert die Moskauer Historikerin Elena P. Separionova. Die Entwicklung der russischen Community wird hier in einem Zusammenhang mit den Integrationsschwierigkeiten der in Prag lebenden Russen sowie der Auswanderung der russischen Exilanten nach Frankreich untersucht. Separionova weist beispielsweise darauf hin, dass die tschechischen Medien Ende der zwanziger Jahre das Niveau der Tschechischkenntnisse der russischen Studenten kritisierten, die nach zehn Jahren in Prag immer noch mit der dortigen Bevölkerung Russisch sprachen (S. 191). Lebten Mitte der zwanziger Jahre etwa 30.000 Russen in der Tschechoslowakei, so reduzierte sich ihre Gesamtzahl in den dreißiger Jahren auf zehn- bis fünfzehntausend Personen. Dieselbe Tendenz beschreibt Tat’jana Simonova in Bezug auf die russische Exilgemeinschaft in Polen, von wo viele bereits 1924 aus ökonomischen Gründen nach Frankreich und Belgien auswanderten. (S. 217) Aus dem Sammelband „V poiskach lučšej doli …“ sind außer den Beiträgen von Separionova und Simonova nur die Aufsätze von Viktor Kosik und Ekaterina Anastasova noch hervorzuheben. Kosik und Anastasova widmen sich der Darstellung des Lebens der russischen Gemeinschaft in Bulgarien. Während sich Kosik (S. 76–94) mit der Zwischenkriegszeit befasst, versucht die bulgarische Historikerin Anastasova (S. 51–75), die Entwicklung der russischen Diaspora in Bulgarien von den zwanziger Jahren bis heute nachzuzeichnen. Der Autorin geht es nicht nur um die Beschreibung der russischen Lehranstalten in Varna und Sofia, sondern auch um die Fragen der russischen Identität in Bulgarien sowie der Integration der eingewanderten Russen in die bulgarische Gesellschaft.

Diese Publikationen sind ein wichtiger Beitrag zur Erforschung der ost- und südosteuropäischen Zeitgeschichte und des russischen Exils in diesen Regionen während der Zwischenkriegszeit. Man findet kaum eine theoretische Fundierung und sucht in den meisten Sammelbandbeiträgen und Monographien vergeblich nach einer Anwendung bzw. einem Neudenken der gängigen theoretischen Ansätze der Diaspora-, Exil- und Migrationsforschung. Nichtsdestotrotz sind die Publikationen interessant, denn die russischen und die anderen Historiker, die sich diesen Themen gewidmet haben, analysieren nicht nur die russischen bzw. russischsprachigen Diskurse. Auch die Sekundärliteratur und teilweise auch Archivfunde aus den jeweiligen Gastländern wurden in ihre Studien miteinbezogen und ausgewertet. Dabei vernachlässigen die Monographien die Interaktion der russischen Exilwissenschaftler mit den nicht-russischen Exilanten, die ebenfalls in Paris, Prag und Berlin wirkten. Trotz dieser Mängel sind diese Veröffentlichungen allen Osteuropainteressenten und -historikern zu empfehlen, die sich mit der Geschichte der russischen Emigration befassen.

Zaur Gasimov, Mainz

Zitierweise: Zaur Gasimov über: Jurij N. Emel’janov Istorija v izgnanii. Istoričeskaja periodika russkoj ėmigracii (1920–1940-e gody) [Geschichte im Exil. Das historische Zeitschriftenwesen der russischen Emigration (1920er–1940er Jahre)]. Moskva: Russkaja panorama, 2008. 493 S. = Stranicy rossijskoj istorii. ISBN: 978-5-93165-213-9.Viktor I. Kosik Čto mne do vas, mostovye Belgrada? Russkaja diaspora v Belgrade. 1920–1950-e gody. Ėsse [Was geht Ihr mich an, Ihr Straßen Belgrads? Die russische Diaspora in Belgrad. 1920er–1950er Jahre. Ein Essay]. Moskva: Institut slavjanovedenija RAN, 2007. 207 S. ISBN: 978-5-7576-0213-4.V poiskach lučšej doli. Rossijskaja ėmigracija v stranach Central’noj i Jugo-Vostočnoj Evropy (vtoraja polovina XIX – pervaja polovina XX v.) [Auf der Suche nach dem besten Teil. Die russländische Emigration in den Ländern Mittel- und Südosteuropas (zweite Hälfte des 19. – erste Hälfte 20. Jahrhunderts]. Otv. red. T. A. Pokivajlova. Moskva: Institut slavjanovedenija RAN, 2009. 246 S. ISBN: 978-5-91674-040-0.Bolgarija i rossijskaja ėmigracija 1920–1945 gg. Istoriko-dokumental’naja vystavka. Katalog vystavki. Vystavočnyj zal federal’nych archivov, 14 fevralja – 18 marta 2007 goda [Bulgarien und die russländische Emigration der Jahre 1920–1945. Eine historisch-dokumentarische Ausstellung. Ausstellungskatalog. Ausstellungssaal der föderalen Archive, 14. Februar – 18. März 2007]. Moskva: Drevlechranilišče, 2007. 102 S., zahlr. Abb. ISBN: keine.Armen S. Gasparjan Operacija „Trest”. Sovetskaja razvedka protiv russkoj ėmigracii. 1921–1937 gg. [Operation „Trest“. Die sowjetische Aufklärung gegen die russische Emigration. 1921–1937]. Moskva: Veče, 2008. 445 S., Abb. = Voennye tajny XX veka. ISBN: 978-5-9533-3534-8, http://www.dokumente.ios-regensburg.de/JGO/erev/Gasimov_SR_Russische_Emigration.html (Datum des Seitenbesuchs)

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